„Das englische Erbrecht kennt keinen Pflichtteilsanspruch!“

Dieser Satz ist ebenso richtig wie falsch: Einen Pflichtteilsanspruch nach deutschem Verständnis, also als zwingende Mindestbeteiligung nächster Angehöriger am Nachlass des Verstorbenen, kennt das englische Recht tatsächlich nicht (anders als übrigens etliche US-Bundesstaaten, sog. „Elective Share“).

Aber: Die Vorschriften des englischen Inheritance (Provision for Family and Dependants) Act 1975 gewähren etlichen Personen die Möglichkeit, einen Anspruch gegen den Nachlass geltend zu machen (to make an application for financial provision from deceased’s estate). Wie häufig in England ist der Gesetzestext ziemlich schwere Kost. Grob zusammengefasst und vereinfacht handelt es sich bei diesen „Inheritance Act Claims“ um gesetzliche Vermächtnisse bestimmter Personen gegen den Nachlass.

Im Unterschied zum deutschen Pflichtteil oder zum französischen Noterbrecht gibt es aber keine festen Quoten, sondern die englischen Gerichte entscheiden nach den konkreten Umständen des Einzelfalls, ob und in welcher Höhe ein solcher Anspruch besteht („reasonable financial provision“). Das Gericht hat hier ein großes Ermessen und auch alle Freiheiten bei der Frage, wie der Anspruch beglichen werden soll: Es kann Zahlung eines einmaligen Geldbetrags anordnen, ein Wohnrecht, eine monatliche Rente oder sogar die Übertragung von Immobilien.

Welche Personen sind also berechtigt?

Das ist die größte Überraschung: Neben dem Ehegatten und den Kindern (eigene wie Stiefkinder) können solche „Inheritance Act Claims“ nämlich unter anderem auch geltend machen:

  • Cohabitees„, also „Mitbewohner“ (die mindestens während der letzten zwei Jahre vor dem Tod mit dem Verstorbenen „as husband or wife“ zusammen gelebt haben; oder
  • Dependants„, also Personen, die der Verstorbene unmittelbar vor seinem Tod finanziell versorgt / unterstützt hat.

Die Voraussetzungen im Einzelnen sie wie gesagt kompliziert und die Beweislast liegt beim Anspruchsteller. Im Ergebnis sind solche Claims also schwierig durchzusetzen. Trotzdem sind Erben in solchen Konstellationen vor Überraschungen nicht gefeit. Auch wenn der Verstorbene unverheiratet war und keine Kinder hatte ist es nicht ausgeschlossen, dass jemand einen solchen Inheritance Tax Claim gegen die Erbmasse geltend macht. Vor allem solche Mandanten, die extra nach Großbritannien umziehen, um ihren Kindern den deutschen Pflichtteil zu entziehen (hier), sollten sicher stellen, dass nicht doch wieder Ansprüche über den Inheritance Tax Act entstehen.

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