Gibt der Brexit ein Sonderkündigungsrecht bei deutsch-britischen Geschäftsbeziehungen?

Sinn und Zweck eines Vertrags ist, dass die Parteien sich daran halten müssen. Pacta sunt servanda. Das sehen, mit unterschiedlichen Ausgestaltungen in den Details, prinzipiell alle Rechtsordnungen so. Könnte sich eine Partei von den ausgehandelten Vertragsinhalten verabschieden, sobald sie es sich anders überlegt oder sich eine günstigere Geschäftsgelegenheit bietet, wären langfristige Geschäftsbeziehungen unmöglich. Unternehmen hätten keine Planungssicherheit, etwa bei Lieferantenbeziehungen oder Investitionen.

Ausnahmen von der Vertragsbindung

Brexit als wichtiger Grund für außerordentliche Kündigung

Es gibt aber Fälle, da ist es einer oder beiden Vertragsparteien nicht zumutbar, weiterhin an die Bestimmungen eines Vertrags gebunden zu bleiben. In diesen Konstellationen kann der Vertrag (unter bestimmten Voraussetzungen) mit sofortiger Wirkung gekündigt werden, also fristlos. In Deutschland regelt dieses Sonderkündigungsrecht bei Dauerschuldverhältnissen der § 314 Abs. 1 BGB (für bestimmte Vertragstypen existieren noch Spezialnormen, etwa im Arbeitsrecht):

(1) Dauerschuldverhältnisse kann jeder Vertragsteil aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist kündigen. Ein wichtiger Grund liegt vor, wenn dem kündigenden Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses bis zur vereinbarten Beendigung oder bis zum Ablauf einer Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann.

In der Praxis benötigt man ein solches Sonderkündigungsrecht nur bei Langzeitverträgen mit einer festen Mindestlaufzeit. Denn wenn der Vertrag ohnehin mit überschaubarer Frist „ordentlich“ (d.h. ohne Notwendigkeit eines Grundes) gekündigt werden kann, wird diese ordentliche Kündigung in aller Regel genügen, um die Interessen der benachteiligten Partei zu schützen.

Bei einer Kündigung aus wichtigem Grund darf der Kündigungswillige nicht zu lange warten. Die außerordentliche Kündigung muss nämlich gemäß § 314 Abs. 3 BGB innerhalb einer angemessenen Frist erfolgen, nachdem der Kündigungswillige vom Kündigungsgrund Kenntnis erlangt hat. In der Praxis nennen Vertragsjuristen hier meist eine Faustregel von ca. zwei Wochen. Die spannende Frage – insbesondere im Kontext einer Sonderkündigung wegen Brexit – ist, ab wann diese Frist konkret zu laufen beginnt: Ab dem Referendumsergebnis? Dann wäre sie längst abgelaufen. Ab dem Votum des Unterhauses, dass ein „no deal Brexit“ erfolgt, also Mitte Januar 2019? Ab dem 29. März 2019?

Nun, es kommt darauf an, wenn dem Kündigungswilligen alle wichtigen Umstände sicher „zur Kenntnis gelangen“. Im Ergebnis bedeutet das für die Kündigung wegen Brexit, dass die Frist ab dem Zeitpunkt läuft, in dem feststeht, welche Art Brexit denn nun tatsächlich stattfinden wird und welche Regeln für internationale Geschäftsbeziehungen dann gelten werden. Ab diesem Zeitpunkt tickt die Uhr und man sollte die Kündigung aus wichtigem Grund eher zu früh aussprechen als zu spät.

Brexit als „veränderter Umstand“ bei Wegfall der Geschäftsgrundlage

Ein weiterer Ansatz, vom britischen Geschäftspartner eine Vertragsanpassung der Vertragsinhalte zu verlangen oder den Vertrag vorzeitig zu Kündigen, ergibt sich nach deutschem Recht aus § 313 BGB, der sogenannten Störung der Geschäftsgrundlage. Hier lauten die gesetzlichen Voraussetzungen wie folgt:

(1) Haben sich Umstände, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert und hätten die Parteien den Vertrag nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen, wenn sie diese Veränderung vorausgesehen hätten, so kann Anpassung des Vertrags verlangt werden, soweit einem Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der vertraglichen oder gesetzlichen Risikoverteilung, das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann.
(2) Einer Veränderung der Umstände steht es gleich, wenn wesentliche Vorstellungen, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind, sich als falsch herausstellen.
(3) Ist eine Anpassung des Vertrags nicht möglich oder einem Teil nicht zumutbar, so kann der benachteiligte Teil vom Vertrag zurücktreten. An die Stelle des Rücktrittsrechts tritt für Dauerschuldverhältnisse das Recht zur Kündigung.

Der Brexit kann – je nach Branche und konkretem Vertragsinhalt – durchaus eine „Veränderung wesentlicher Umstände“ bedeuten. Der deutsche Vertragspartner hat etwa darauf vertraut, dass im Vereinigten Königreich während der Laufzeit des Vertrags die EU-Regularien gelten, keine Zölle erhoben werden, keine Lieferverzögerungen eintreten etc. Ein deutsches Unternehmen kann gegenüber seinem britischen Geschäftspartner also durchaus argumentieren, dass Vertragsanpassungen nötig sind. Im Extremfall ist auch bei der Störung der Geschäftsgrundlage die vorzeitige Kündigung das letzte Mittel.

Da es sich in beiden Fällen um eine Ausnahme vom Grundsatz pacta sunt servanda  handelt (Verträge muss man einhalten), muss der Kündigungswillige sehr konkret und überzeugend argumentieren, wenn er vor Gericht Erfolg haben will. Pauschale Hinweise darauf, dass „Brexit alles schwieriger macht“ genügen nicht.

Praxistipps für deutsche Unternehmen mit Dauergeschäftsbeziehungen zu Großbritannien

Sobald feststeht, welche Ausprägung des Brexit denn nun kommt, sollten deutsche Unternehmen intensiv und schnell prüfen, welche wirtschaftlichen und rechtlichen Folgen das für die Geschäftsbeziehungen zu britischen Partern hat. Eine kleine Checkliste für mögliche wichtige Gründe bzw. wesentliche Umstände; natürlich ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

  • Erhöhen sich durch den Brexit die Kosten für das deutsche Unternehmen? Vielleicht ergibt sich sogar ein grobes Missverhältnis zwischen Aufwand und Leistungsinteresse (§ 275 II BGB)
  • Steigt der Verwaltungsaufwand beim deutschen Unternehmen?
  • Werden Zölle eingeführt? Gibt es sonstige Einfuhrhemmnisse?
  • Droht ein massiver Wertverlust des britischen Pfund?
  • Gelten nach Brexit wichtige gesetzliche Bestimmungen (EU-Recht) in UK nicht mehr, die für den deutschen Unternehmer aber von zentraler Bedeutung sind?
  • Sind deutsche Urteile nach Brexit noch in UK vollstreckbar?
  • Gelten deutsche / europäische Markenrechte und Patente nach Brexit auch noch in UK? Ist dieses geistige Eigentum in UK noch sicher geschützt?
  • Dürfen die deutschen Mitarbeiter noch ungehindert und ohne großen Verwaltungsaufwand ins Vereinigte Königreich einreisen?
  • Dürfen deutsche Manager noch Führungsrollen in britischen Unternehmen ausüben (z.B. in UK-Tochtergesellschaften oder deutsch-britischen Joint Ventures)?

Kommt das deutsche Unternehmen zum Ergebnis, dass der Vertrag mit dem britischen Geschäftspartner, so wie er aktuell gilt, wegen Brexit nicht mehr zumutbar ist, so sollte die deutsche Firma möglichst rasch und konsequent agieren. In der Praxis bedeutet das: Zumindest eine Änderungskündigung ausprechen, also den Vertrag zu den aktuellen Konditionen kündigen, gleichzeitg aber Verhandlungen über einen Vertrag mit geänderten Konditionen anbieten.

Absicherung gegen negative Brexit-Folgen

Bei diesen Verhandlungen mit den britischen Geschäftspartnern (Checkliste hier) sollte man dann sehr konsequent vorgehen und von Anfang an klar machen, dass die Änderungen durch den Brexit verursacht wurden, also nicht in die Risikosphäre des deutschen Unternehmens fallen. Wegen der Unsicherheiten zur künftigen Rechtslage hat man als deutscher Vertragsjurist nun auch sehr gute objektive Argumente, warum deutsches Recht (inklusive des EU-Rechts) und deutscher Gerichtsstand vereinbart werden müssen. Alles andere führt nämlich für die deutschen Unternehmen zu extremer Rechtsunsicherheit und zu Mehrkosten. In UK gelten mit Eintritt des Brexit künftig zum Beispiel weder die Europäische Gerichtsstand- und Vollszreckungs-Verordnung, noch die Europäische Zustell-Verordnung oder die Europäische Beweisaufnahme-Verordnung. Selbst wenn die Briten manches in innerbritisches Recht aufnehmen (siehe European Union (Withdrawal) Act 2018), gilt das EU-Recht künftig eben nicht mehr unmittelbar und auch nicht mehr in vollem Umfang. Man kann sich nicht darauf verlassen, wie sich das britische Recht weiter entwickelt. Deutsche Firmen und ihre Unternehmensjuristen müssen sich deshalb mühsam damit vertraut machen, welche Regelungen in Großbritannien gelten. Oder man muss teure englische Anwälte (Solicitors) einschalten.

Fazit: Verträge prüfen und nachverhandeln, ggf. kündigen

Der Brexit wird kaum eine deutsche-britische Geschäftsbeziehung völlig unberührt lassen. Wenn deutsche Unternehmen vermeiden wollen, dass durch den Brexit negative Auswirkungen auf sie durchschlagen, so sollten diese ihre deutsch-britischen Verträge, insbesondere die mit langen Laufzeiten, sehr kritisch prüfen (Planspiele mit Worst Case Szenarien durchführen) und schnell agieren. Ein Sonderkündigungsrecht, wenn gewünscht, muss nämlich innerhalb einer kurzen Frist ausgeübt werden

Der Beitrag bezieht sich natürlich primär auf die Konstellationen, bei denen auf den Vertrag deutsches Recht anwendbar ist. Falls für die Vertragsbeziehung englisches oder schottisches Recht gilt, wird es schwieriger. Zwar kennt auch das englische Zivilrecht die Möglichkeit, sich wegen wichtiger Umstände vorzeitig aus einem Vertrag zu lösen („frustration of contract“). Aber das wird mühsamer durchzusetzen und wegen der Notwendigkeit britischer Anwälte auch erheblich teurer.

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Falls Sie bei einer deutsch-britischen oder deutsch-amerikanischen Rechtsangelegenheit Unterstützung benötigen, stehen Ihnen die Anwälte der Kanzlei Graf & Partner mit ihrem internationalen Netzwerk in Europa sowie im außereuropäischen englischsprachigen Rechtsraum gerne zur Verfügung. In UK, Kanada sowie den meisten großen US-Bundesstaaten verfügen wir über gute persönliche Kontakte zu Attorneys-at-Law in mittelgroßen Kanzleien.

Weitere Informationen zu Rechtsstreitigkeiten mit Briten oder vor britischen Gerichten, zur englischen Zivilprozessordnung, Prozessführung und Zwangsvollstreckung in UK in diesen Posts:

 

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