Kein Zeugnisverweigerungsrecht in England

Böse Überraschung für deutsche Prozessparteien in englischen Zivilprozessen

Ein verblüffender Unterschied zwischen deutschen und englischen Verfahren ist das fast vollständige Fehlen von Aussageverweigerungsrechten im englischen Zivilprozess. Die deutsche ZPO gewährt in § 383 Abs. 1 folgenden Personen ein Recht zur Zeugnisverweigerung aus persönlichen Gründen:

1. der Verlobte einer Partei;

2. der Ehegatte einer Partei, auch wenn die Ehe nicht mehr besteht;

2a. der Lebenspartner einer Partei, auch wenn die Lebenspartnerschaft nicht mehr besteht;

3. diejenigen, die mit einer Partei in gerader Linie verwandt oder verschwägert, in der Setenlinie bis zum dritten Grad verwandt oder bis zum zweiten Grad verschwägert sind oder waren;

4. Geistliche in Ansehung desjenigen, was ihnen bei der Ausübung der Seelsorge anvertraut ist;

5. Personen, die bei der Vorbereitung, Herstellung oder Verbreitung von periodischen Druckwerken oder Rundfunksendungen berufsmäßig mitwirken oder mitgewirkt haben, über […];

6. Personen, denen kraft ihres Amtes, Standes oder Gewerbes Tatsachen anvertraut sind, deren Geheimhaltung durch ihre Natur oder durch gesetzliche Vorschrift geboten ist […].

Zu den Gründen für dieses Zeugnisverweigerungsrecht für Ehepartner und Familienangehörige gehören der Familienfriede, der Schutz solcher Personen vor Loyalitätskonflikten und – aus Sicht der Justiz – die Vermeidung von falschen Zeugenaussagen.

Ehepartner und Kinder müssen als „feindliche Zeugen“ aussagen

Das englische Recht bewertet den Aspekt Loyalitätskonflikt von Zeugen offensichtlich völlig anders, denn eine dem §383 ZPO entsprechende Vorschrift sucht man in der englischen Zivilprozessordnung vergeblich. Nicht einmal der Ehegatte kann im englischen Zivilprozess eine Zeugenaussage verweigern, umso weniger Kinder, Eltern oder Geschwister einer Prozesspartei. Dies ist keineswegs ein „Versehen“ oder eine noch offene Rechtsfrage, sondern vielmehr die klare und gewollte Entscheidung des Gesetzgebers, dass die Wahrheitsfindung im Zivilprozess Vorrang vor etwaigen Loyalitätskonflikten hat. Bis 1968 gewährte nämlich der Evidence Amendment Act 1853 – wenn auch nur für Ehepartner (spouses) – noch ein Aussageverweigerungsrecht im Zivilprozess. Dieses wurde aber durch den Civil Evidence Act 1968 abgeschafft und auf den Bereich des Strafrechts begrenzt. Der Wortlaut von Section 16(3) lässt keine Zweifel offen:

“Section 3 of the Evidence (Amendment) Act 1853 (which provides that a husband or wife shall not be compellable to disclose any communication made to him or her by his or her spouse during the marriage) shall cease to have effect except in relation to criminal proceedings.”

Ehegatten und Verwandte haben im englischen Zivilprozess also kein Aussageverweigerungsrecht. So mancher Kläger aus Deutschland, der ganz selbstverständlich davon ausging, dass das englische Prozessrecht ähnliche Aussageverweigerungsrechte kennt wie das deutsche, hat einen Rechtsstreit in England begonnen und war dann entsetzt, als ihm seine Anwälte irgendwann im laufenden Verfahren mitteilten (in der Regel wenn die schriftlichen Zeugenaussagen anstehen), dass seine Ehefrau, seine Kinder, Eltern und/oder seine Geschwister unter Eid vor Gericht aussagen und sich dem Kreuzverhör des gegnerischen barrister stellen müssen.

Existieren nach englischem Recht in Zivilrechtsstreitigkeiten überhaupt irgendwelche Zeugnisverweigerungsrechte? Wie steht es mit Rechtsanwälten, Steuerberatern oder Geistlichen?

  • Gemäß Section 14 Civil Evidence Act 1968 kann jeder Zeuge die Beantwortung von Fragen verweigern, die ihn selbst oder seinen Ehepartner dem Risiko einer strafrechtlichen Verfolgung aussetzen. Aber selbst hier gelten Einschränkungen und der Zeuge ist in der unangenehmen Lage, sich auf die potentielle Strafbarkeit berufen zu müssen.
  • Geistliche (Pfarrer, Priester, Rabbi, Pastor, Reverend) haben nach englischem Recht ebenfalls kein Zeugnisverweigerungsrecht. Das in vielen Rechtsordnungen anerkannte „clergy-penitent privilege“ (auch „priest-penitent privilege“) hat in England keine gesetzliche oder common law Grundlage. Es gibt zwar Stimmen, die davon ausgehen, dass ein englischer Zivilrichter Äußerungen als Beweis ausschließen kann, die jemand einem Geistlichen gegenüber in einer Beichte oder beichtähnlichen Situation getätigt hat, aber verlassen kann man sich darauf nicht.
  • Wenigstens Anwälte und sonstige Berater im juristischen Umfeld können sich auf das „legal professional privilege“ berufen und in bestimmten Situationen die Zeugenaussage sowie die Herausgaben von Unterlagen verweigern. Selbst hier – im Verhältnis Anwalt zu Mandant – sind die Voraussetzungen eines Verweigerungsrechts aber restriktiver als in Deutschland.

Fazit: Die Wahrheitsfindung hat im englischen Zivilprozessrecht Vorrang gegenüber den persönlichen Befindlichkeiten von Zeugen und ihren Angehörigen. Bevor sie einen Rechtsstreit initiieren, müssen deutsche Prozessparteien daher analysieren, ob Zeugen dem Fall schaden können, die in Deutschland die Aussage verweigern könnten, in England aber nicht.

Eine ganz andere Frage ist allerdings, ob ein deutscher Zeuge überhaupt gezwungen werden kann, vor einem englischen Gericht auszusagen. Die Details sind komplex, aber die kurze Antwort ist: eher nicht! Hat der Zeuge also nur einen Wohnsitz in Deutschland, nicht in UK, kann sich der Zeuge meist faktisch doch der Vernehmung entziehen.


DER TEXT IST EIN GEKÜRZTER AUSZUG AUS DEM PRAXISHANDBUCH „DER ZIVILPROZESS IN ENGLAND“, KAPITEL „DER ZEUGENBEWEIS“.

Rechtsanwalt Bernhard Schmeilzl, Master of Laws, ist Experte für deutsch-englisches Prozessrecht sowie internationales Erbrecht. Er berät und vertritt deutsche Unternehmen und wohlhabende Privatpersonen in grenzüberschreitenden Rechtsfällen, insbesondere bei deutsch-britischen Wirtschaftsstreitigkeiten, Scheidungen, komplexen Erbfällen und internationalen Gerichtsverfahren. Er ist Autor des im Winter 2023/2024 erscheinenden Praxishandbuchs Der Zivilprozess in England