Praxistipps zum Zivilprozess in England und Wales

Background und Ausbildung englischer Richter/innen

Wer sitzt bei einem Zivilprozess eines deutschen Unternehmens gegen seinen UK-Geschäftspartner in England nach statistischer Wahrscheinlichkeit auf der Richterbank? Laut jüngster Judicial Diversity Statistics vom 14. Juli 2022, die Auskunft gibt über Geschlechterverteilung, ethnische Abstammung und beruflichen Hintergrund der Richterschaft zum Stichtag 1.4.2022, waren 32% der court judges und 50% der tribunal judges Frauen. Der in Großbritannien unter der Bezeichnung BAME (Black, Asian and minority ethnic) zusammengefassten Bevölkerungsgruppe gehörten 9% der judges an (allerdings nur 5% der senior judges, also High Court und darüber), wobei der BAME-Anteil in London erheblich höher ist als im Rest des Landes. Als beruflichen Hintergrund gaben 69% der court judges an, vorher barrister gewesen zu sein, 31% waren vorher als solicitor, chartered legal executive (CILex) oder in einem anderen Beruf tätig.

Im Unterschied zu Deutschland werden Richter in England und Wales nicht frisch von der juristischen Schulbank weg rekrutiert, also unmittelbar nach dem Examen, sondern aus der Anwaltschaft (www.judiciary.uk/about-the-judiciary/who-are-the-judiciary/). Voraussetzung für eine Ernennung zum Richter ist nämlich eine „angemessene juristische Berufserfahrung“ (reasonable judicial experience). In der Praxis bedeutet das heute mindestens fünf bis sieben Jahre. Meist sind es jedoch erheblich mehr, so dass man kaum Richterinnen oder Richtern begegnet, die jünger als 40 Jahre sind.  

Ein weiterer Unterschied zu Deutschland: Wer Richter werden will, bewirbt sich auf eine ganz konkrete freie Position. Diese werden auf der Website der Judicial Appointments Commission (JAC) in der Rubrik „Vacancies“ ausgeschrieben (https://apply.judicialappointments.digital/vacancies). Auf beliebte Richterpositionen bewerben sich in der Regel mehrere hundert Kandidaten. Es gibt weder ein bestimmtes Mindest- noch Höchstalter, so dass auch Anwälte jenseits der 50 oder sogar 60 regelmäßig zu Richtern ernannt werden. Eine faktische Grenze resultiert aber aus dem gesetzlichen Pensionierungsalter (mandatory retirement age), das im Jahr 2021 von bisher 70 auf nun 75 Jahre erhöht wurde. Was für deutsche Berufsrichter befremdlich wirken dürfte: Viele starten ihre Justizkarriere – neben der Anwaltstätigkeit – als Teilzeit-Richter (part-time judges) auf Honorarbasis oder sogar ehrenamtlich in einem tribunal. Es erhöht nämlich die Chancen auf die Benennung in ein höheres Richteramt, wenn man vorher an lower courts in ehrenamtlichen Richterfunktionen oder als Schiedsrichter (arbitrator, adjudicator) tätig war.

Die Vergütung von Richterinnen und Richtern in England

Für das Richterpersonal in England und Wales gibt es acht Besoldungsklassen (salary groups), veröffentlicht auf der Website des Justizministeriums (https://www.gov.uk/government/publications/judicial-salaries-and-fees-2022-to-2023).

Die Vergütung für diese Berufsrichter liegt auf allen Stufen erheblich über der Besoldung deutscher Richter. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass im Vereinigten Königreich Richterinnen und Richter in der Regel erst jenseits des 45. Lebensjahres berufen werden und oft eine erfolgreiche Anwaltskarriere aufgeben, um auf die Richterbank zu wechseln.

Anders als in Deutschland ist dort auch längst nicht jeder Richter ein Berufsrichter, der ein richtiges Gehalt (salary) erhält. Wie oben bereits erwähnt, werden – vor allem an unteren Gerichten und Tribunals – viele Richter nebenamtlich auf Honorarbasis (fee paid judges) eingesetzt, also mit einer Tagespauschale (day rate) pro Sitzungstag bezahlt. Diese Honorare (fees) sind ebenfalls gesetzlich festgelegt und in einer Tabelle veröffentlicht (Judicial Fee Schedule of the Ministry of Justice). Die nebenamtlichen Richter sind meist barrister oder solicitors, seltener Unternehmensjuristen (inhouse counsels), die später eine Richterkarriere anstreben (oder das zumindest nicht ausschließen) und durch diese Nebentätigkeit auf Honorarbasis Punkte für den beruflichen Lebenslauf sammeln und an ihrem Justiz-Netzwerk arbeiten. Selbst wenn ein barrister in Wahrheit gar keine Richterambitionen hegt, sondern dauerhaft in seinem Beruf bleiben möchte, hilft eine solche Nebentätigkeit bei der Bewerbung um den begehrten King´s Counsel Status.


DER TEXT IST EIN GEKÜRZTER AUSZUG AUS DEM PRAXISHANDBUCH „DER ZIVILPROZESS IN ENGLAND“, KAPITEL „DIE RICHTERSCHAFT“.

Rechtsanwalt Bernhard Schmeilzl, Master of Laws, ist Experte für deutsch-englisches Prozessrecht sowie internationales Erbrecht. Er berät und vertritt deutsche Unternehmen und wohlhabende Privatpersonen in grenzüberschreitenden Rechtsfällen, insbesondere bei deutsch-britischen Wirtschaftsstreitigkeiten, Scheidungen, komplexen Erbfällen und internationalen Gerichtsverfahren. Er ist Autor des im Winter 2023/2024 erscheinenden Praxishandbuchs Der Zivilprozess in England

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