Struktur und Zuständigkeiten der englischen Zivilgerichte

Wer einen Zivilprozess in England führen will, muss zunächst einmal wissen, welches Gericht für den (internationalen) Rechtsstreit zuständig ist. Diese Frage ist in England gar nicht so einfach zu beantworten. Auf der offiziellen Website der englischen Justiz, www.judiciary.uk, lautet der erste Satz zum Thema Struktur des Gerichtswesens:

„Rather than being designed from scratch, our courts system has evolved and developed over 1,000 years. This has led to a complicated and, in places, confusing structure.“

Übersetzt: „Unser Gerichtssystem ist kompliziert und – an manchen Stellen – verwirrend, da es sich über 1.000 Jahre hinweg entwickelt hat, statt von Grund auf konzipiert worden zu sein.“

Dieser erstaunlich realistischen Selbsteinschätzung kann man nicht widersprechen. Schon das für einen konkreten Fall zuständige Eingangsgericht zu finden, ist in England eine Herausforderung. Wer in England nach klar verständlichen Zuständigkeitsregeln und absolut trennscharfen Kompetenzabgrenzungen zwischen den einzelnen Gerichten sucht, muss an seiner Frustrationstoleranz arbeiten. Der erfahrene solicitor und BBC-Rechtsexperte Alex Woods fasst es in seinem Ratgeber für prozesswillige Laien mit dem Titel „Flying solo – How to represent yourself in the courts of England and Wales“ so zusammen:

„Unfortunately, the English [court] system is not a system of certainty. It is full of qualifications, caveats, variations and discretionary powers […]. A lot of the CPR rules often finish […] saying something like this: “But the judge can exercise his discretion to do anything he wants!” Continentals with their legal system would go crazy trying to work in ours. Our system is from the grassroots up and all vague and a bit woolly, whilst theirs are codes and it is all top-down.”

Übersetzt in etwa: „Leider ist das englische Gerichtswesen kein System klarer Zuständigkeiten. Es ist voll von Bedingungen, Ausnahmen, Abweichungen und Ermessenvorbehalten […]. Viele Paragrafen der Zivilprozessordnung enden mit einer Formulierung wie dieser: „Jedoch kann der Richter sein Ermessen ausüben um zu tun, was er will!“ Kontinentaleuropäer, die ihr Rechtssystem gewohnt sind, würden wahnsinnig werden, wenn sie in unserem arbeiten wollten. Unser System ist von unten her gewachsen, unpräzise und verworren, während deren System durch Gesetze von oben nach unten reguliert ist.“  

Es wird auch nicht einfacher dadurch, dass erstens seit 2016 im Rahmen des „HMCTS Reform Programme“ eine konstante Modernisierung von Abläufen, Online-Angeboten und Formularen stattfindet und dass zweitens der Tod von Queen Elisabeth II im September 2022 zu einer teilweisen Umbenennung von Gerichten geführt hat. Alle Publikationen und Internet-Fundstellen mit einem Datum vor Herbst 2022 sind deshalb mit Vorsicht zu genießen.

Auch die interne Organisation des Gerichtswesens wurde modernisiert. Der aktuelle Status Quo zum 20.9.2022 ist in der Richtlinie „The Organisation of the Judiciary zusammengefasst. Hier eine grafische Übersicht der Gerichtsstruktur von England und Wales (Structure of Courts and Tribunals System) wie sie in überarbeiteter Form seit April 2023 auf der Judiciary-Website veröffentlicht ist.

Innerhalb des High Court wurde, neben der seit jeher bestehenden Unterteilung in die drei Divisions (King’s Bench, Chancery und Family Division) mit Beginn zum 2.10.2017 auch eine weitere Organisationseinheit „The Business & Property Courts“ geschaffen. Darin sind fachlich spezialisierte Gerichte zusammengefasst, ähnlich den Kammern für Handelssachen sowie den Zivilkammern für bestimmte Sachgebiete an deutschen Landgerichten (§95 und §72a Gerichtsverfassungsgesetz).

Internationale Zivil- und Wirtschaftsprozesse mit Beteiligung einer deutschen Prozesspartei werden mit hoher Wahrscheinlich einem dieser Business and Property Courts zugewiesen. Deshalb ist für deutsche Prozessbeteiligte der 2022 komplett überarbeitete PraxisleitfadenThe Business and Property Courts of England & Wales Chancery Guide 2022“ von besonderem Interesse.

Welches englische Zivilgericht ist zuständig?

Welches dieser vielen Gerichte ist nun konkret zuständig? Zunächst muss man seinen englischen Zivilrechtsstreit dem zuständigen Gerichtszweig zuordnen und ihn dort – in einem zweiten Schritt –buchstäblich auf das richtige Gleis (track) setzen. Neben der Frage, ob ein Zivilprozess vor dem County Court oder dem High Court verhandelt wird (sehr grob vergleichbar mit der Unterscheidung zwischen Amtsgericht und Landgericht, ordnet das Gericht im Rahmen des „case management“ den Prozess per Beschluss auch noch einem von mehreren „tracks“ (Verfahrensgleise) zu. Eine Entsprechung hierfür sucht man im deutschen Zivilprozessrecht vergeblich. Für diese „tracks“ gelten jeweils verschiedene Verfahrensvorschriften. Es existieren drei „Verfahrensgleise“, nämlich:

  • Small claims track
  • Fast track
  • Multi-track 

Die Entscheidung des Gerichts über den „track“ erfolgt allerdings nicht gleich zu Anfang des Gerichtsverfahrens, sondern in der Regel erst nachdem die Parteien Schriftsätze ausgetauscht haben, mindesten die Klageerwiderung eingegangen ist.


DER TEXT IST EIN GEKÜRZTER AUSZUG AUS DEM PRAXISHANDBUCH „DER ZIVILPROZESS IN ENGLAND“.

Rechtsanwalt Bernhard Schmeilzl, Master of Laws, ist Experte für deutsch-englisches Prozessrecht sowie internationales Erbrecht. Er berät und vertritt deutsche Unternehmen und wohlhabende Privatpersonen in grenzüberschreitenden Rechtsfällen, insbesondere bei deutsch-britischen Wirtschaftsstreitigkeiten, Scheidungen, komplexen Erbfällen und internationalen Gerichtsverfahren. Er ist Autor des im Winter 2023/2024 erscheinenden Praxishandbuchs Der Zivilprozess in England

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