Tatsächliche Bearbeitungszeiten in der Praxis der englischen Nachlassgerichte zwischen 4 und 12 Monaten

Noch im Herbst 2023 schätzte die englische Ziviljustiz (His Majesty’s Courts and Tribunals Service, abgekürzt HMCTS) auf Anfrage der Regierung, dass sie pro Arbeitstag ca. 1.000 Erbscheinsanträge bearbeiten kann und dass somit die Wartezeit von der Einreichung eines durchschnittlich komplexen Erbscheinsantrags bis zur Erteilung des „Grant“ etwa sechs bis acht Wochen dauert. Leider ist das nur graue Theorie. In Wirklichkeit, so zeigte eine Untersuchung, dauert bereits die Bearbeitung von „normalen“ Erbscheinsanträgen (also solchen ohne besonderen Schwierigkeitsgrad) mindestens 14 bis 16 Wochen. Bei komplexen Erbfällen, also inbesondere bei internationalen Sachverhalten, dauert die Bearbeitung gerne auch einmal sechs bis zwölf Monate!

Im November 2023 kündigte der Justizausschuss des Unterhauses (House of Commons Justice Committee) deshalb eine Untersuchung an, die sich mit dem Abbau von Verzögerungen und der Überprüfung des Gebührensystems der englischen Nachlassgerichte (probate court fees) befassen soll.

Warum arbeiten die englischen Nachlassgerichte so langsam?

Der erste Grund ist die Covid-Pandemie, die einen massiven Rückstau von Erbscheinsanträgen verursacht hat, der bis heute noch nicht vollständig abgebaut ist. Im englischen Originalton: „a hefty build-up of unprocessed estates in the system„. Zum einen erhöhte sich durch bzw. während der Pandemie in England und Wales die Sterberate, gleichzeitig waren die englischen Nachlassgerichte zeitweilig geschlossen bzw. die Mitarbeiter arbeiteten im Home Office, was sich als erheblich weniger effizient herausstellte, vor allem bei sog. „paper based applications“, also Erbscheinsanträgen, die nicht elektronisch eingereicht werden (siehe hier: www.gov.uk/government/publications/apply-for-probate-by-post-if-there-is-not-a-will). HMCTS hat sich 2023 auf die Bearbeitung älterer offener Fälle konzentriert, was jedoch dazu geführt hat, dass die Bearbeitungszeit insgesamt so lang ist wie seit 2019 nicht mehr.

Ein weiterer Grund ist die Zentralisierung der englischen Nachlassgerichte. Früher existierten über England und Wales verteilt zwölf verschiedene, dezentrale Nachlassgerichte (Probate Registries), von Brighton über London bis Newcastle. Die Liste findet sich noch in meinem – insoweit veralteten – Beitrag aus dem Juli 2017:

Die Bearbeitung von Erbscheinsanträgen in England und Wales erfolgt seit 2019/2020 nun aber zentralisiert durch das Nachlassgericht HMCTS PROBATE in Harlow, eine gute Stunde nord-östlich von London. Diese Zentralisierung führte wiederum dazu, dass viele erfahrene Nachlassrichter und Nachlassrechtspfleger, die an den dezentralen Probate Registries arbeiteten, nicht mehr zur Verfügung stehen, weil diese so spät in ihrer Beamtenkarriere nicht mehr von Birmingham, Newcastle, Cardiff usw. umziehen wollten. Es gab also eine Welle von Frühpensionierungen erfahrener Nachlassrichter in England oder aber diese Mitarbeiter wechselten in einen anderen Fachbereich an ihrem Gericht. So oder so fehlt nun die fachliche Expertise, gerade für komplizierte Konstellationen wie internationale Nachlassfälle.

Der dritte Problembereich ist die nicht optimale Abstimmung der Abläufe zwischen dem englischen Nachlassgericht und dem englischen Erbschaftsteuerfinanzamt (HMRC), also der schlechte Workflow zwischen diesen Behörden. Das englische Nachlassgericht bearbeitet einen Fall erst und nur, wenn (nachdem) das Finanzamt grünes Licht gegeben hat (Details hier: Ablauf Erbscheinsverfahren in England). Deshalb sollte man als Antragsteller immer zuerst die englische Erbschaftsteuererklärung abgeben, dann mindestens zwei Monate warten und erst dann den Erbscheinsantrag stellen. Wenn nun aber – wie häufig – private Antragsteller beides gleichzeitig abgeben oder sogar den englischen Erbscheinsantrag vor der Erbschaftsteuererklärung, dann stellt der englische Nachlassrichter fest, wenn er die Akte in die Hand nimmt, dass die Freigabe des englischen Finanzamts noch nicht da ist. Dann passiert das Schlimmste, was einem Antragsteller widerfahren kann: Der Antrag auf einen englischen Grant of Probate oder Letters of Administration kommt auf die Warteliste, oder im Originalton: „the probate application is stopped“.

Die größten Verzögerungen bei der Bearbeitung von Erbscheinsanträgen gibt es nämlich gibt es bei den Anträgen, die erst einmal „gestoppt“ wurden, auch wenn das an rein formellen Gründen liegt und nicht an der Schwierigkeit oder dem Umfang des Antrags. Das liegt daran, dass ein Antrag, der gestoppt wurde, erst einmal wieder ans Ende der Warteschlange gestellt wird. Oft sind dann auch andere Sachbearbeiter für diese „stopped applications“ zuständig. Im Zeitraum April bis Juni 2023 dauerte es im Durchschnitt 22 Wochen, bis Erbscheine erteilt wurden, wenn das Erbscheinsverfahren gestoppt wurde, verglichen mit 10 Wochen Bearbeitungsdauer für Anträge, die nicht gestoppt wurden. In diesem Jahr 2023 wurden rund 84.000 Nachlassverfahren gestoppt und bei gut 25% dieser gestoppten Anträge war das „Problem“ allein die rein formelle Tatsache, dass die Freigabe des Finanzamts wegen der Erbschaftssteuer noch nicht vorlag, als der Probate Registrar (Rechtspfleger) die Unterlagen durchsah, der „stop“ hatte also keinerlei inhaltlichen Gründe, wäre also vermeidbar gewesen.

Weitere Gründe für die vorläufige Einstellung des englischen Erbscheinsverfahrens („stopped probate proceedings“) sind unvollständige Angaben in den Antragsformularen, Mängel des eingereichten Testaments, wie etwa fehlende Seiten oder Beschädigungen.

Langsam heißt teuer!

Verzögerungen des Nachlassverfahrens können erhebliche finanzielle Folgen für die Familien haben, da diese ohne Erbschein möglicherweise Schwierigkeiten haben, dringende Rechnungen zu bezahlen. Noch gefährlicher ist aber, dass Aktiendepots oder Immobilien erst dann verkauft werden können, wenn der Erbschein vorliegt. Längere Wartezeiten können dazu führen, dass potenzielle Käufer einer Immobilie abspringen oder Aktiendepots in den Keller rauschen.

Außerdem muss die englische Erbschaftssteuer innerhalb von sechs Monaten nach dem Todestag gezahlt werden. Wenn sich die Erben bzw. Testamentsvollstrecker darauf verlassen, dass diese Erbschaftsteuern aus den Nachlass-Bankkonten oder durch den Verkauf des Hauses in England bezahlt werden, gibt es ein böses Erwachen, wenn der englische Erbschein erst viele Monate später kommt. Bis dahin fallen dann erhebliche Verzugszinsen und Verspätungszuschäge beim englischen Finanzamt an.

Fazit: Keine Risiken eingehen beim englischen Erbscheinsantrag

HMCTS unternimmt nach eigenen Angaben zwar große Anstrengungen, um die Effizienz der Bearbeitung von Erbscheinsanträgen zu verbessern und die Wartezeiten für Antragsteller zu verkürzen. Dazu gehört etwa die Einführung des IHT-Codes (also ein Code, mit dem man die Zahlung der englischen Erbschaftsteuer (IHT) nachweist) sowie die Einrichtung eines „Citizens Hub“, über den sich Antragsteller einloggen und über den aktuellen Stand ihres Falls informieren können. Wie man im Englischen aber so schön sagt: „don’t hold your breath“. Verlassen Sie sich also lieber nicht darauf.

Die besten Chancen auf eine schnelle Bearbeitung haben Erben in England immer noch, wenn sie den Erbscheinsantrag fehlerlos ausfüllen, perfekte Anlagen beifügen und die Erbschaftsteuern (Inheritance Tax) in England mindestens zwei Monate vor Einreichung des Erbscheinsantrags geregelt haben.

Mehr zur Reform des englischen Erbscheinsanstragsverfahrens / Nachlassprozederes hier.

Experten-Anwaltskanzlei für englisches Erbrecht und englische Erbschaftsteuer

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