Was bedeutet “Discovery” im US-Zivilprozess?

US-amerikanische Zivilprozesse folgen völlig anderen Spielregeln als deutsche Gerichtsverfahren

Diese Weisheit klingt banal, man muss sich das als Anwalt eines deutschen Klägers oder Beklagten, der zum ersten Mal in die Welt der US-Litigation verwickelt wird, immer wieder vor Augen halten. Sonst kommt man – bildlich gesprochen – mit einem Fussball-Trikot und Shorts zum Spiel, während die USA-Anwälte eine American Football-Montur mit Helm und Schulterpolstern tragen. Oder, um ein anderes amerikanisches Sprichwort zu bemühen: „Don’t bring a knife to a gun fight.“

Die Vorentscheidung des US-Zivilprozesses fällt bereits im „Pre Trial Discovery“

Während dieser vorprozessualen Sachverhaltserforschung (pretrial discovery) sammeln die Prozessparteien Fakten zum Fall und tauschen Informationen und Dokumente aus. Und zwar in einem Umfang, der dem deutschen Zivilprozessanwalt aberwitzig erscheint. Es wird nämlich gerade nicht nur unmittelbar Fallrelevantes ausgetauscht, sondern mehr oder weniger alles: Korrespondenz (auch interne), eMails, Memos, Vertragsentwürfe usw. Wenn man etwas nicht „disclosen“ (dem Gegner offenlegen) will, muss man das ausdrücklich begründen, etwa mit Geheimhaltungsinteresse hinsichtlich Intellectual Property. Dann entscheidet der Richter, ob und in welchem Umfang offengelegt werden muss, ggf. teilweise geschwärzt.

In großen Zivilprozessen werden Lastwagenladungen mit Dokumenten an die Gegenseite geschickt, wahlweise in heutigen Zeiten Gigabyte oder sogar Terabyte an Dateien. Die beteiligten Prozessanwälte müssen das alles sichten, nach Relevanz sortieren und juristisch bewerten. Zunächst das Material des eigenen Mandanten, um zu wissen, was an die Gegenseite raus geht und wo man sich angreifbar macht. Dann das von der Gegenseite übermittelte Material. So bereiten sich beide Parteien auf die eigentliche Prozessphase (trial stage) vor. Deshalb ist es nicht unüblich, dass 50 oder mehr Junganwälte (Associates) an einem großen Wirtschaftsrechtsstreit mitarbeiten. Die dadurch entstehenden Kosten kann man sich vorstellen (oder als deutscher Prozessanwalt vielleicht eben auch gerade nicht vorstellen).

Im Detail dient die Discovery also zu folgendem:

  • Informationen und Dokumente zum Sachverhalt sammeln (to collect facts);

  • informelle Zeugenaussagen einholen, also Memos über Aussagen sogenannter „friendly witnesses, also „freundlicher“ Zeugen (to get witness statements informally);

  • formelle Zeugenaussagen einholen (per Wortprotokoll oder Videoaufnahme), insbesondere von sog. „hostile witnesses“, also von „unfreundlichen“ Zeugen oder von der Gegenpartei selbst (to get witness or party statements in a deposition);

  • die Argumentationslinie und Prozessstrategie der Gegenseite erforschen (to find out what the other side is going to say);

  • die jeweiligen Schwachstellen herausfinden (to see how good or weak their case is; to see how good your own case is);

  • ergänzende Informationen für die eindrucksvolle Präsentation des Falles vor Gericht sammeln, insbesondere in Jury-Prozessen (to get all the important information you need to present your case in court).

Discovery als Druckmittel

Das Discovery-Verfahren ist extrem teuer und zeitaufwendig. Es kann in einem Unternehmen neben der Rechtsabteilung auch die betroffenen Fachabteilungen lahm legen.  In Wirtschaftsrechtsprozessen und großen Zivilgerichtsverfahren entfallen auf die Discovery-Phase meist 80-95% der gesamten Prozesskosten (Legal Costs).  Die jeweiligen Anwaltsteams werten die Berge von Unterlagen aus, erstellen Fragenlisten, werten die darauf erhaltenen Antworten aus und stellen ggf. Anträge auf weitere Offenlegung bei Gericht, wenn die Gegenseite ihrer Meinung nach unvollständig geantwortet hat.

Die Discovery ist kompliziert und findet zum Teil formell (formal investigation) und zum Teil informell (informal investigation) statt. In beiden Fällen werden die so gefundenen Informationen noch nicht offiziell bei Gericht eingereicht (filed with the court), sondern nur mit der Gegenseite geteilt. Schon während dieser Discovery sollte man eine rechtliche Prozessstrategie verfolgen und die Beweisregeln (evidence rules) im Blick haben. Denn was Teil der Discovery wird, erfährt zwingend auch der Prozessgegner. Man kann hier keine geheimen Trümpfe in der Hinterhand behalten. Zur informellen Beweissicherung gehören zum Beispiel: Gespräche mit (potentiellen) Zeugen, Fotos (etwa von Sachbeschädigungen), Auskünfte aus Polizei- oder Behördenakten u.a.m.

Formal Discovery

Spannender, und für den deutschen Rechtsanwalt ziemlich fremdartig erscheinend, ist die „formal discovery”, ein in der Zivilprozessordnung der US-Bundestaaten geregeltes juristisches Prozedere (hier als Beispiel die Zivilprozessordnung von Kalifornien), das von den Prozessparteien genutzt werden kann, sobald die Klage offiziell erhoben wurde (after a case has been filed). Zu den Werkzeugen der Sachverhaltserforschung (tools of discovery), mit der man Informationen von der Gegenseite einholen kann, gehören:

Interrogatories: schriftliche Fragen an den prozessgegner, die dieser schriftlich und unter Eid beantworten muss. Diese Antworten können im Gerichtsverfahren verwendet werden.

Depositions: mündliche, also in einem persönlichen Interview gestellte Fragen and eine beteiligte Person, welche diese unter Eid (under oath) beantworten muss. Die befragte Person (person being deposed) kann eine Prozesspartei selbst sein, also der Kläger bzw. der Beklagte („party deposition“) oder aber ein anderweitig am Prozess Beteiligter, zum Beispiel ein Zeuge („third party deposition“). So eine „Deposition“ wird entweder von einem „Court Reporter“ wörtlich mitprotokolliert oder/und auf Video aufgezeichnet. Details zum Ablauf einer solchen „Oral Deposition“ hier am Beispiel der ZPO des Bundesstaats Kalifornien.

Requests for production of documents: Antrag auf Herausgabe von Dokumenten oder einer ganzen Kategorie von Dokumenten (class of documents), z. B. alle Verträge mit Kunden eines bestimmten Produkts. Hierfür muss man zur Überzeugung des Gerichts vortragen, dass diese Dokumente für den Fall mit einiger Wahrscheinlichkeit relevant sein können.

Requests for admissions: Hierbei geht es darum, dass die Prozessparteien wechselseitig bestätigen, welcher Teil des sachverhaltsvortrags unstreitig gestellt (admitted) wird. Hierüber muss dann kein Beweis erhoben werden.

Subpoenas:  Schriftliche Anordnung des Gerichts, mit der eine Person unter Androhung einer Erzwingungsstrafe aufgefordert wird, bestimmte Auskünfte oder Beweismittel zu einem Sachverhalt in bestimmter Weise beizubringen, also eine Zeugenaussage zu machen bzw. Dokumente oder andere Beweismittel vorzulegen.

Schon während des Discovery Verfahrens (discovery process) können und sollten die Prozessanwälte bestimmte Anträge und Fragen zurückweisen, etwa wegen Irrelevanz oder anderer schutzwürdiger Interessen. Streiten die Parteien darüber, ob bestimmte Fragen beantwortet oder Unterlagen vorgelegt werden müssen, entscheidet auf Antrag der Prozessrichter hierüber.

Damit die Discovery nicht völlig ausufert, sehen die Prozessordnungen der US-Bundesstaaten meist bestimmte Regeln vor, wie viele Fragen gestellt werden dürfen und/oder wie lange eine Discovery maximal dauern darf (hier am Beispiel Kalifornien: Time for Completion of Discovery).

Fazit und Tipp für deutsche Prozessanwälte bei Zivilfällen mit USA-Bezug

Wenn es in einem internationalen, grenzüberschreitenden Zivilprozess möglich ist, dass US-Gerichte zuständig werden oder dass US-amerikanische Zivilprozessregeln anwendbar sein können, binden Sie möglichst frühzeitig erfahrene US-Prozessanwälte (Litigation Lawyers) ein. Mit den Waffen der US-Prozessordnungen kann man den Gegner erheblich früher und intensiver unter Druck setzen, als mit dem Instrumentarium der eher behäbigen deutschen Zivilprozessordnung, zumindest so, wie sie von deutschen Richtern meist angewendet wird, nämlich sehr lasch. Auch die deutsche ZPO sieht in der Theorie scharfe Sanktionen vor (Verspätungspräklusion, Ordnungsgeld u.a.m.), nur wenden deutsche Richter diese sehr selten an. Meist bekommt der Gegner noch eine Stellungnahmefrist und noch eine Stellungnahmefrist und noch eine Stellungnahmefrist. Völlig anders in den USA. Dies liegt natürlich auch daran, dass der gesamte Prozessstoff punktgenau für die mündliche Verhandlung vorliegen muss, denn die Geschworenen (Jury), die es auch in Zivilprozessen gibt, kann nicht endlos zur Verfügung stehen.

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Das anglo-deutsche Anwaltsteam der Kanzlei Graf & Partner löst seit 2003 deutsch-britische und deutsch-amerikanische Rechtsfragen. Die Prozessabteilung GP Litigation berät und vertritt deutsche, britische und US-amerikanische Unternehmen in Arbitrationverfahren wie in Gerichtsprozessen.

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