Wer von einem englischen Gericht geladen wird, sollte sich für diesen Tag nichts anderes mehr vornehmen

Englische Gerichte sind überlastet. Das ist kein Geheimnis oder eine subjektive Meinung, sondern wird von der Politik freimütig eingeräumt und von der englischen Justiz seit vielen Jahren beklagt. Manche gehen so weit, das englische Gerichtswesen als „broken“ zu bezeichnen, vor allem den Bereich der Strafjustiz, wo zum Stand September 2022 ein Rückstau von 60.000 offenen Strafverfahren am Crown Court gezählt wurde (Details hier). Am Crown Court landen nur die schweren Delikte!

Aber auch bei den Zivilgerichten in England und Wales sieht es nicht viel besser aus. Verfahren dauern lange und Termine werden häufig verschoben (mehr dazu hier). Ich hielt es zunächst für einen Scherz, als ich von einem befreundeten englischen Anwalt vor fünf Jahren zum ersten Mal den Satz hörte, dass die angesetzte mündliche Verhandlung kurzfristig abgesetzt wurde mit der Begründung: „they could not find a judge“. In England gilt nicht das strenge Prinzip des gesetzlichen Richters, wie man das aus Deutschland kennt. Da werden Fälle gerne mal kurzfristig auf einen anderen Richter übertragen („case is released to another judge“) oder gleich an ein anderes Gericht.

Gerichte setzen mehr Verhandlungstermine an, als an einem Tag bewältigbar sind

Eine lästige praktische Auswirkung dieser Überlastung der englischen Zivilgerichte ist, dass sehr viele Verhandlungstermine als sog. „action in the continuous list“ angesetzt werden. das bedeutet, dass für den selben Verhandlungstag und zur selben Uhrzeit mehrere Verfahren anberaumt werden. Die Parteien und Zeugen sitzen dann, obwohl sie zu einer bestimmten Uhrzeit am Vormittag geladen wurden, oft mehrere Stunden am Gerichtsflur oder im Zuschauerraum des Gerichts und warten darauf, dass ihr Fall endlich aufgerufen wird.

Manchmal wird der Fall auch gar nicht aufgerufen, weil das Gericht an diesem Tag nicht zu allen Verfahren kommt. Dann „darf“ man zu einem neuen Termin erscheinen und das Spiel begint von vorne. Der teure Barrister, den man für den angesetzten Termin gebucht und auch bereits per Vorschuss bezahlt hat, kostet dann doppelt, denn dieser rechnet seine Zeit natürlich auch dann ab, wenn der Termin nicht stattfindet.

Wer nun glaubt, dass ich übertreibe und es so schlimm ja wohl nicht sein kann, der möge diese Standardbelehrung der englischen Gerichte lesen, die eine Partei zusammen mit der Terminsladung erhält (hier Beispiel einer Ladung des Family Court Middlesbrough):

Ladung mit Hinweisen an die Prozesspartei


Rechtsanwalt Bernhard Schmeilzl, Master of Laws, ist Experte für Rechtsvergleichung, insbesondere für deutsch-englisches Prozessrecht sowie internationales Erbrecht. Er berät und vertritt deutsche Unternehmen und wohlhabende Privatpersonen in grenzüberschreitenden Rechtsfällen, insbesondere bei deutsch-britischen Wirtschaftsstreitigkeiten, Scheidungen, komplexen Erbfällen und internationalen Gerichtsverfahren. Er ist Autor des Anfang 2024 erscheinenden Praxishandbuchs Der Zivilprozess in England

Weitere Informationen zum englischen Zivilprozess in diesen Beiträgen:

–  Was verdienen Richter in England?

– Wie sieht eine Zivilklage in England aus?

– In englischen Rechtsstreit verwickelt?

– UK Zivilprozessordnung und Expertengutachten in England

– Anwaltliche Versicherung in UK” (solicitor’s undertaking)

– Mandant lügt im Zivilprozess, Anwalt haftet: Harte ZPO-Regeln vor englischen Gerichten

– Mal schnell Klage einreichen? Nicht in England

– Solicitors, Barristers, Advocates: Wer darf in England vor Gericht eigentlich was?

Die 2003 gegründete Kanzlei Graf & Partner ist mit ihrer Abteilung für britisch-deutsche Prozessführung (GP Litigation) auf grenzüberschreitende Rechtsfälle spezialisiert, insbesondere auf deutsch-britische Wirtschaftsstreitigkeiten, Scheidungen und Erbfälle. Rechtsanwalt Schmeilzl ist Experte für Rechtsvergleichung, für deutsch-englisches sowie deutsch-amerikanisches Prozessrecht sowie Erbrecht und agiert auch in vielen Fällen als Nachlassabwickler (Executors & Administrators) für deutsch-britische oder deutsch-amerikanische Erbfälle.

Falls Sie bei einer britisch-deutschen Rechtsangelegenheit Unterstützung benötigen, stehen Ihnen die deutschen Anwälte und Solicitors der Kanzlei Graf & Partner sowie die englischen Solicitors unserer Partnerkanzleien gerne zur Verfügung. Ihr Ansprechpartner in Deutschland ist Bernhard Schmeilzl, Rechtsanwalt & Master of Laws (Leicester, England).