Das angekratzte Ego des Sachverständigen? In England irrelevant!

Expertengutachten entstehen in Prozessen vor englischen Zivilgerichten nach ganz anderen Regeln als in Deutschland. Dort gilt Zwang zur Einigung statt jahrelanger Papierkrieg zwischen selbstverliebten Sachverständigen. Was ist besser?

Bei Zivilprozessen vor englischen Gerichten kommt es für deutsche Prozessbeteiligte und deren deutsche Rechtsanwälte oft zu einem Kulturschock. Dass englische Richter ein deutlich strafferes Regiment führen als der durchschnittliche deutsche Zivilrichter haben wir hier bereits erklärt. Lapidarer Vortrag einer Partei ins Blaue hinein führt in Großbritannien sehr schnell dazu, dass es im Gerichtssaal frostig wird.

Einer der wichtigsten Unterschiede zwischen deutscher Zivilprozessordnung und englischen Civil Procedure Rules ist die Praxis des Sachverständigenbeweises nach englischem Recht. Die Grundzüge der CPR-Regeln sind hier erklärt. Deutsche Kläger oder Beklagte, die zum ersten Mal mit englischen Zivilgerichten zu tun haben, unterschätzen meist, wie völlig anders die englischen Anwälte an einen Zivilprozess herangehen.

Mein Sachverständiger, dein Sachverständiger?

Wenn vor Gericht eine technische Frage fallentscheidend ist (etwa im Arzthaftungsrecht oder in Werkvertragsprozessen), sind Zivilprozesse in Deutschland oft geprägt von einem Krieg der Experten: Es beginnt mit vorprozessualen Privatgutachten der Parteien, geht weiter mit gerichtlich beauftragten Erstgutachten, Gegengutachten und endet mit einem Obergutachten. In der Zwischenzeit sind fünf Jahre vergangen, die Parteien entnervt und die Prozessakten so dick, dass keiner mehr den Wald vor lauter Bäumen sieht.

Diese Gutachten erstellen die Sachverständigen meist nacheinander und ohne direkten Kontakt zueinander. Treffen die Sachverständigen dann doch einmal aufeinander, dann in aller Regel erst im Gerichtssaal. Und zwar als Kontrahenten, weil der Erstgutachter seine Auffassung gegen den „frechen Gegengutachter“ verteidigen muss. Es geht um Autorenstolz und angekratzte Egos von Professoren, Oberärzten oder Ingenieuren, weniger um die nüchterne Diskussion der Sachfrage. Das arme Gericht sieht diesem Spektakel der Experten zu und muss aus der Situation „zwei Gutachter, drei Meinungen“ das Beste machen.

Ganz anders bei Zivilprozessen vor englischen Gerichten

Kommen hier zwei Sachverständige zu einer unterschiedlichen Bewertung einer fallrelevanten Frage, dann ordnet das englische Zivilgericht an, dass die Experten das Problem untereinander ausdiskutieren und sodann eine gemeinsame schriftliche Stellungnahme abgeben müssen. In der englischen Zivilprozessordnung (Civil Procedure Rules) heißt das: „the court orders a without prejudice meeting of experts“. In einem solchen Fachgespräch müssen die Sachverständigen dann abschichten, wo genau die Meinungsverschiedenheiten liegen und warum sie zu verschiedenen Ergebnissen gelangen. Wenn ein Sachverständiger nicht konstruktiv mitarbeitet, sondern stur und ohne gute Begründung auf seiner Ansicht beharrt, wird das als „unprofessional conduct“ gewertet. Können die Gutachter sich trotz aller Diskussionen nicht auf eine gemeinsame Bewertung einigen, dann müssen sie dies gegenüber dem Gericht detailliert schriftlich begründen.

Diese englischen Zivilprozessregeln haben eine ungemein disziplinierende Wirkung. Parteiische Gutachten („partisan opinions“) sind somit weder erlaubt, noch möglich. Jeder Sachverständige in England weiß ja, dass er mit abstrusen Mindermeinungen keine Chance auf eine gemeinsame Stellungnahme („joint expert statement“) hat.

Für die Prozessparteien bedeutet dies, dass sie bei der Auswahl des Sachverständigen (diese erfolgt in England ja nicht durch das Gericht, sondern direkt durch die Parteien) zum einen natürlich auf Fachkompetenz und Standing schauen sollten, zum zweiten aber auch darauf, dass der gewählte Expert gute Kommunikationsfähigkeiten hat. Der beste Sachverständige hilft „seiner“ Partei nämlich nichts, wenn der charismatische und eloquente Gegner-Expert ihn im „without prejudice meeting“ niederbügelt.

Ansonsten sind die englischen Civil Procedure Rules deutlich formalistischer als die deutschen ZPO-Regeln. Die Parteien müssen sogar schon vor Klageerhebung strengen Regeln folgen (zum „pre action protocol“ ausführlich hier). Übrigens muss man in diesem formellen Prozessankündigungsschreiben („letter before action“) den Gegner unter anderem auch bereits darauf hinweisen, dass man beabsichtigt, einen Sachverständigen mit einem Gutachten zu beauftragen. Selbst die Namen der in Frage kommenden Experten muss man bereits mitteilen. Der Gegner kann dann Einwendungen gegen bestimmte Sachverständige auf der Expertenliste erheben.

Man sieht: Das englische Zivilprozessrecht hat eine völlig andere Herangegensweise an zivilrechtliche Streitigkeiten. Ein Kläger muss in England bereits vor Klageerhebung alle Karten offen legen und den Sachverhalt vollständig offen legen. Nachbesserungen im laufenden Gerichtsverfahren, wie in Deutschland völlig üblich, sind in England viel schwieriger und haben in jedem Fall negative Konsequenzen bei der Prozesskostenverteilung.

Der deutsche Rechtsanwalt und Master of Laws Bernhard Schmeilzl berät seit gut 20 Jahren deutsche Firmen im englischen Recht, insbesondere in englischen Zivilprozessen, vor allem großen Wirtschaftsverfahren. Als Experte für das englische Zivilprozessrecht hat er den einzigen Praxisleitfaden zum englischen Zivilprozess in deutscher Sprache geschrieben, der im Herbst 2023 beim BECK-Verlag erscheint.

Weitere Informationen zu Rechtsstreitigkeiten mit Briten oder vor britischen Gerichten, zur englischen Zivilprozessordnung, Prozessführung und Zwangsvollstreckung in UK in diesen Posts:

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Das anglo-deutsche Anwaltsteam der Kanzlei Graf & Partner löst seit 2003 deutsch-britische Rechtsfragen. Die Litigation-Abteilung für britisch-deutsche Prozessführung (GP Chambers) ist auf grenzüberschreitende Rechtsfälle spezialisiert, insbesondere auf deutsch-britische Wirtschaftsstreitigkeiten, Scheidungen und Erbfälle. Rechtsanwalt Schmeilzl und Solicitor Jelowicki sind Experten für deutsch-englisches sowie deutsch-amerikanisches Erbrecht und agieren auch in vielen Fällen als Nachlassabwickler (Executors & Administrators) für deutsch-britische oder deutsch-amerikanische Erbfälle.

Falls Sie bei einer britisch-deutschen Rechtsangelegenheit Unterstützung benötigen, stehen Ihnen die deutschen Anwälte und Solicitors der Kanzlei Graf & Partner sowie die englischen Solicitors unserer Partnerkanzleien gerne zur Verfügung. Ihr Ansprechpartner in Deutschland ist Bernhard Schmeilzl, Rechtsanwalt & Master of Laws (Leicester, England). Telefon 0941 / 463 7070