Schuldnerparadies England. Wo der Gerichtsvollzieher niemals klingelt

In der Theorie ist die Zwangsvollstreckung im Vereinigten Königreich ähnlich wie bei uns. Es gibt Bailiffs (Gerichtsvollzieher) und man kann – auf dem Papier – auch Konten oder sonstige Forderungen pfänden. In der Praxis ist die Zwangsvollstreckung in England ein Witz. Für Gläubiger leider meist ein schlechter.

In diesen Beiträgen haben wir bereits die juristischen Vollstreckungsvoraussetzungen erläutert, wie man also einen in England vollstreckbaren Titel erlangt:

All das ist schon nicht vergnügungssteuerpflichtig, da extrem langwierig und teuer. Besonders haarsträubend wird es aber, wenn der Schuldner behauptet, kein Vermögen zu besitzen (übrigens nicht selten, obwohl er in einer ansehnlichen Villa in Kensington residiert und mit einem Bentley zu Besprechungsterminen fährt – all das gehört aber natürlich nicht ihm).

Dann verlangt man als Gläubiger was? Eine Vermögensauskunft und eine eidesstattliche Versicherung des Schuldners. In England läuft es (zumindest in der Theorie) ähnlich. Aber eben nur ähnlich.

In der Praxis wird der Schuldner hierfür nämlich zu einem formellen Gerichtstermin geladen. Dafür gibt es – wie für alles im englischen Gerichtswesen – ein spezielles Formular, das sog. N39 „Order to attend court for questioning“.

Ach so, Sie meinen ich übertreibe mit „es gibt für alles ein offizielles Prozessformular“? Dann scrollen Sie mal hier: Annex A List of Court Forms arranged by subject-matter. Aber vielleicht vorher eine Tasse Tee holen…

Zurück zu unserem Termin für die Abgabe der eidesstattlichen Versicherung in England. Man füllt also das Formular N39 aus und schickt es ans Gericht. Da liegt das N39 dann einige Wochen. Mit etwas Glück setzt das Gericht, präziser der Master der Vollstreckungsabteilung (Enforcement Section) des HM Courts & Tribunals Service, dann irgendwann einen Anhörungstermin fest, meist mit 4-6 Wochen Vorlauf. Diesen Termin trägt das Gericht in das N39 ein, siegelt es und verschickt das Original. An wen?

Nun, es verhält sich im Königreich Ihrer Majestät so, dass das Gericht solche Ladungen nicht selbst an die Parteien zustellt. Vielmehr schickt das Gericht das N39 mit der Information über den Anhörungstermin an den Antragsteller, also den Gläubiger. bzw. dessen Anwälte, also uns. Nun verhält es sich weiter so, dass die Gerichte Ihrer Majestät die interne Verwaltungsanweisung haben, Post (auch Ladungen) aus Kostengründen mit Second Class Mail zu verschicken. Was zu Postlaufzeiten von England nach Deutschland von mehreren Wochen, manchmal auch Monaten führt. Faktisch bedeutet das, dass wir in zwei Drittel der Fälle die Information über den Anhörungstermin erhalten, nachdem dieses Datum bereits abgelaufen ist. Es war aus Sicht des englischen Gerichts der Gläubiger also im Termin unetschuldigt nicht erschienen (der Schuldner sowieso nicht, denn der hat ja keine Ladung erhalten, auch keine verspätete). Nun müssen wir also einen neuen Termin beantragen, dem Gericht erklären, dass wir nicht Schuld sind (sondern die Post) und hoffen, dass die Royal Mail das nächste Mal schneller arbeitet.

Daher lassen wir das gesiegelte N39 nicht nach Deutschland schicken, sondern an unsere Partnerkanzlei in London. Aber selbst wenn wir die Information über die Schuldneranhörung einige Tage vorher bekommen, ist es schwierig: Denn wir müssen diese Ladung dem Schuldner nun rechtzeitig und nachweislich zustellen, im Parteibetrieb! Wie dargelegt, scheidet die Post in England hierfür aus (Details hier). Also gibt man teuer Geld für einen sog. Process Server aus und hofft, dass dieser den Schuldner antrifft, denn Ersatzzustellung ist in UK ein Minenfeld, insbesondere auch mangels Briefkästen mit Namen.

In den wenigen Fällen, in denen die Zustellung der Ladung tatsächlich funktioniert, beantragt der Schuldner dann kurzfristig Terminsverlegung. Der neue Termin ist nach unserer Erfahrung dann zwei oder drei Monate später. Es eilt ja nicht. Oder aber der Schuldner stellt Antrag auf Privatinsolvenz. Das ist ein weiteres lustiges Spezialthema des englischen Rechtswesens, zu dem wir hier schon einmal unsere Meinung kundgetan haben: Schuldenbefreiung durch Flucht nach England. Jetzt noch leichter!

Fazit und Tipps für alle Privatleute und Unternehmen, die Geschäfte mit englischen Vertragspartnern abschließen, die sie noch nicht kennen: Deutsches Recht und deutschen Gerichtsstand vereinbaren. Möglichst nicht in Vorleistung gehen! Falls unvermeidbar, Sicherungsbürgschaft eines inländischen Bürgschaftsgebers verlangen.

Wenn man seiner Forderung in England erst einmal hinterher laufen muss, ist meist Hopfen und Malz verloren. Vollstreckungsaufträge für Forderungen unterhalb 10.000 Euro nehmen wir erst gar nicht an, um dem Mandanten und uns die Frustration zu ersparen.

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Die 2003 gegründete Wirtschaftskanzlei Graf & Partner und deren Abteilung für britisch-deutsche Prozessführung (GP Chambers) ist auf grenzüberschreitende Rechtsfälle spezialisiert, insbesondere auf deutsch-britische Unternehmensverkäufe (M&A Deals), Wirtschaftsstreitigkeiten, internationale Nachlassplanung (Estate Planning) und Erbfälle.

Falls Sie bei einer britisch-deutschen oder amerikanisch-deutschen Rechtsangelegenheit Unterstützung benötigen, stehen Ihnen die deutschen Anwälte und Solicitors der Kanzlei Graf & Partner sowie die englischen Solicitors der Kanzlei Lyndales gerne zur Verfügung. Ihr Ansprechpartner in Deutschland ist Bernhard Schmeilzl, Rechtsanwalt & Master of Laws (Leicester, England).