Theorie und Praxis der deutsch-britischen Urteilsanerkennung und Vollstreckung

Eine Glosse? Leider traurige Realität. Sogar vor Brexit.

Angeblich absolvieren US-Präsidenten in den ersten Wochen ihrer Amtszeit einen Intensivkurs in Frustrationstoleranz, Anger Management und Affektkontrolle. Solch einen Kurs sollte auch jeder deutsche Anwalt belegen, der regelmäßig im Vereinigten Königreich juristische Dokumente zustellen muss oder Entscheidungen bzw. Beschlüsse englischer Gerichte benötigt. Nun macht unsere Kanzlei dies am laufenden Band und wir haben auch noch den (theoretischen) Vorteil, britische Kollegen mit englischer Anwaltszulassung im Team zu haben. Dennoch müssen auch wir – je nach Tageslaune – oft entweder schallend lachen oder in die Tischkante beißen. Die Theorie, wie ein deutscher Titel in UK vollstreckt werden kann, haben wir hier erklärt. Zum Kontrast, hier nun ein aktuelles Praxisbeispiel aus dem Alltag einer deutsch-britischen Anwaltskanzlei:

Ein am LG München hart erkämpftes streitiges deutsches Urteil in einem recht prominentem Fall muss gegen die in London wohnenden Schuldner vollstreckt werden. Innerhalb der EU ja wohl kein Problem! Nur schnell das deutsche Urteil in UK anerkennen lassen und los geht die Vollstreckung! Nun, wie der Brite sagt: „Not quite.“

Die Tatsache, dass man eine Ausfertigung des deutschen Landgerichtsurteils mit EU-Vollstreckbarerklärung besitzt, beeindruckt die Gerichte Ihrer Majestät überhaupt nicht. Erst einmal wird verlangt, dass das gut 30-seitige Urteil in beglaubigter Übersetzung vorgelegt wird. Wohlgemerkt das ganze Urteil, nicht nur der Tenor! Dann muss ein „qualified lawyer“ als expert witness eine eidesstatliche Versicherung abgeben, dass das Urteil ordnungsgemäß zustande gekommen ist (Zustellungen, rechtliches Gehör etc) und inhaltlich sagt, was es sagt. Anders formuliert: Irgendein Anwalt versichert gegenüber dem englischen High Court, dass das deutsche Landgericht alles korrekt gemacht hat. Ein lustiger Ansatz. So hatte sich die EU das zwar nicht vorgestellt mit der wechselseitigen Vollstreckungsanerkennung. Aber nach einem guten Jahrzehnt deutsch-britischer Anwaltstätigkeit haben wir verinnerlicht, dass man die Sinnhaftigkeit solcher britischer Procedure Rules keinesfalls thematisieren oder gar in Frage stellen darf. Schon gar nicht sollte man gegenüber britischen Gerichten Sätze beginnen mit: „But EU regulation xyz/123 clearly states that this is not necessary …“. Die Raumtemperatur sinkt dann nämlich sofort um zehn Grad, der Gesichtsausdruck des englischen Registrars, Commissioners oder Judges versteinert und man erntet als Antwort ein „Is that so, Sir? We will certainly look into that.“ Dies kann man frei übersetzen mit: „Is mir egaaaal, is mir egahahal.“ Anschließend bleibt die Akte so lange (unten) im Stapel liegen, bis man dem Gericht genau die Dokumente liefert, die das Gericht haben will.

Nun, zurück zum Fall. Wir lassen also das Urteil für knapp 2.000 Euro übersetzen, organisieren das Witness Statement eines qualified Lawyer und schicken das Gesamtpaket der heiligen Originaldokumente für 80 Euro per Kurier nach London. Per normaler Post kann man Urlaubspostkarten schicken, die dann allerdings erst nach durchschnittlich 21 Tagen ankommen, aber bitte nie juristische Originaldokumente. Auch UPS und DHL sind zwar nicht fehlerfrei (siehe diesen schmerzlichen Erfahrungsbericht), aber verglichen mit der Royal Mail sind solche Kurierdienste ein Fels in der Brandung.

Nach etwa vier Wochen traut sich unsere englische Anwältin, einmal höflich nachzufragen, wie denn der Bearbeitungsstand ist. Die überraschende Antwort: „Yes, we can see from our computer system, that we received an application from you, but we are currently unable to locate the actual file.“ Das ist britischer Schönsprech für: „Ich fürchte, wir haben die Unterlagen verschlampt.“ Wir entscheiden uns dagegen, diesen Zwischenstand dem Mandanten mitzuteilen, es ist schließlich gerade 3. Advent und wir wollen die Hoffnung in die englische Bürokratie noch nicht ganz fahren lassen. Und siehe da: Bei der nächsten Anfrage wenige Tage vor Weihnachten berichtet man uns stolz, dass sich die Akte wieder gefunden hat. Sie lag in einem anderen Department des Gerichts, fünf Etagen tiefer. Kann ja mal passieren.

Nun allerdings sei ja Holiday Season und die Akte würde dem Richter voraussichtlich Mitte Januar vorgelegt. Kein Problem. Die Schuldner wissen ja erst seit Erlass des deutschen Urteils vor wenigen Monaten, dass wir eine gute Million vollstrecken wollen. Es eilt ja nichts. Keinerlei Risiko der Vollstreckungsvereitelung.

So, Mitte Januar ergeht dann tatsächlich der Beschluss, dass das deutsche Urteil in UK vollstreckt werden kann. Nur: in der anglo-amerikanischen Prozesswelt stellt nicht das Gericht zu, sondern die Partei selbst. Wenn man nicht aufpasst, schickt das englische Gericht in London also den Beschluss nach Deutschland, worauf hin wir dann den Beschluss wieder in London zustellen lassen müssen. Übrigens verschicken englische Behörden und sogar Gerichte die allermeiste Post per Second Class Mail (ja, so etwas gibt es in good old Britain noch). Das sei eine Verwaltungsanweisung. Um Portokosten zu reduzieren. Ich lasse jetzt mal längere Ausführungen zur Second Class Mail weg…

Um sich dieses spaßige Post-Ping-Pong über den Ärmelkanal zu ersparen, weisen wir – als ausgefuchste deutsch-britische Anwälte – das englische Gericht schriftlich an, die Dokumente nicht an unsere Münchner Kanzlei zu schicken, sondern an einen in London sitzenden „Process Server“, also eine Dienstleistungsfirma, die sich auf die Zustellung juristischer Dokumente spezialisiert (zum Beispiel Remington Hall). Die sollen das dann ja ohnehin den Schuldnern zustellen. Was übrigens weitere 80 Pfund (gute 100 Euro kostet), aber dann hat man wenigstens ein Zustellungsprotokoll, das in UK akzeptiert wird.

Nur, leider kommt der Beschluss nicht beim Process Server in London an. Wieder Anruf beim Gericht. Auskunft: „We really have no explanation for this, Sir.“ Also beantragen wir, den Gerichtsbeschluss erneut auszustellen und zu verschicken, was aber eine schriftliche Versicherung unsererseits voraussetzt, dass der erste Beschluss auch tatsächlich nicht angekommen ist und wir diesen wirklich, definitiv und auf gar keinen Fall haben.

Sodann äußern wir die Bitte, ob man uns denn den Beschluss nicht wenigstens parallel faxen oder als PDF Scan mailen könnte, damit wir wenigstens eine Kopie des Dokuments haben. Faxen geht gar nicht, weil irgendwie verboten. DX Delivery ginge, das ist eine in UK und einigen weiteren Commonwealth-Ländern genräuchliche Kommunikation über eine Art Fern-Fotokopierer (siehe hier und hier). Das lehnen wir dankend ab, da in Deutschland völlig unbekannt. Also vielleicht mailen? Ein PDF Scan ist „highly unusual“, wäre hier aber ausnahmsweise möglich. Nur, leider sei der Scanner im Vollstreckungsgericht derzeit defekt und man müsse warten, bis der Wartungsmann kommt. Nun, der Wartungsmann kam nicht. Aber das (zweite) Original trudelte dann doch noch beim Process Server ein und der schickte uns einen Scan.

An dieser Stelle breche ich den nicht erfundenen Erfahrungsbericht ab. Sei nur noch gesagt, dass dies ja nur der erste Teil der Vollstreckungsvoraussetzung war, nämlich die Anerkennung des deutschen Urteils auf der Insel. Zur eigentlichen Zwangsvollstreckung in England (Stichwort Bailiff) gäbe es auch noch einiges zu sagen, aber: Let us save that for another day.

– – – –

Die 2003 gegründete Kanzlei Graf & Partner ist mit ihrer Abteilung für britisch-deutsche Prozessführung (GP Chambers) auf grenzüberschreitende Rechtsfälle spezialisiert, insbesondere auf deutsch-britische Wirtschaftsstreitigkeiten, Scheidungen und Erbfälle. Falls Sie bei einer britisch-deutschen Rechtsangelegenheit Unterstützung benötigen, stehen Ihnen die deutschen Anwälte und Solicitors der Kanzlei Graf & Partner sowie die englischen Solicitors der Kanzlei Lyndales gerne zur Verfügung. Ihr Ansprechpartner in Deutschland ist Bernhard Schmeilzl, Rechtsanwalt & Master of Laws (Leicester, England).

2 Comments