Pflichtteil komplett umgehen? Seit 2015 hilft nur Wegzug aus Deutschland

Der Pflichtteilsanspruch, wie ihn das deutsche und österreichische Erbrecht kennen, ist ein extrem scharfes Schwert. Die Erben müssen zunächst Auskunft erteilen. Das klingt harmlos, hat es in der Praxis aber in sich. Konkret heißt das nämlich: ein Inventarverzeichnis über den gesamten Nachlass erstellen (bis zur letzten Hummel-Figur in der Glasvitrine) sowie alle Schenkungen des Verstorbenen innerhalb der letzten 10 Jahre mitteilen, bei Schenkungen an den Ehepartner sogar zeitlich unbegrenzt, also rückwirkend über Jahrzehnte. Wenn der Pflichtteilsberechtigte es verlangt, muss der Erbe hierfür sogar einen Notar einschalten. Ein teures Vergnügen. Als nächstes müssen die Erben die Nachlassgegenstände bewerten lassen (Sachverständigengutachten) und schließlich den hieraus resultierenden Pflichtteilsanspruch zahlen, sofort und schlimmstenfalls mit Verzugszinsen.

All das ärgert solche Testamentsersteller, die zu den Pflichtteilsberechtigten ein schlechtes oder gar kein Verhältnis haben. Diese haben die Einstellung: Warum soll man sein mühsam erarbeitetes Vermögen nicht völlig frei vererben können, sondern einen gewaltigen Batzen davon (im Extremfall ist der Pflichtteil 50% der gesamten Erbmasse) zwingend an die undabkbare Verwandtschaft geben müssen? Pflichtteilsberechtigt sind übrigens folgende Personen:

  • der Ehegatte

  • die Abkömmlinge (also Kinder, Enkel us.w.) sowie

  • die Eltern, sofern der Testamentsersteller keine Kinder hat.

Nun, vom Ehegatten kann man sich scheiden lassen, wenn man ihn oder sie nicht mehr erträgt. Dann entfällt natürlich auch dessen Pflichteilsrecht. Wenn man sich aber mit seinen Kindern oder mit seinen Eltern zerstritten hat, dann bleibt deren Pflichtteilsanspruch dennoch bestehen, auch wenn man seit vielen Jahren keinerlei Kontakt mehr hatte.

Der deutsche oder österreichische Normalbürger kann dem nicht entkommen, weil das deutsche bzw. österreichische Erbrecht nun einmal zwingend gilt. Durch gewisse Maßnahmen, kann man den Pflichtteil zwar reduzieren oder die Geltendmachung zeitlich nach hinten schieben. Komplett beseitigen kann man ihn aber nicht, es sei denn, man bringt vor dem Tod alles noch schnell selbst durch, etwa per Weltreise oder Spielcasino (verschenken bringt gerade nichts, weil dann ein Pflichtteilsergänzungsanspruch greift).

Bis vor Einführung der EU-Erbrechtsverordnung half in diesen Konstellationen noch der Tipp, im Ausland Immobilien zu kaufen, weil in bestimmten Ländern wie Großbritannien, Irland, USA, Südafrika etc kein Pflichtteilsrecht gilt und das damalige internationale Privatrecht zur sogenannten Nachlassspaltung führte, d.h. auf das Nachlassvermögen im Inland (Deustchland, Österreich) wurde das deutsche bzw. österreichische Erbrecht (inklusive den Pflichtteilsregeln) angewendet, für Immobilienvermögen im Ausland (z.B. Eigentumswohnung in London) galt dann aber englisches Erbrecht.

Das klappt nun aber für alle Erbfälle ab dem 17. August 2015 nicht mehr, weil die EU-Erbrechtsverordnung sagt, dass auf den gesamten Erbfall das Recht desjenigen Landes anzuwenden ist, in dem der Erblasser vor seinem Tod den gewöhnlichen Aufenthalt hatte (Prinzip der Nachlasseinheit). Lebte der Verstorbene also zuletzt in Deutschland, dann kann der Pflichtteilsberechtigte nun auch seine Pflichtteilsquote aus der Londoner Wohnung oder dem südafrikanischen Strandhaus einklagen und gegen den Erben in Deutschland vollstrecken. Die englischen Gerichte sehen das zwar anders, das hilft dem Erben aber nichts, wenn er in Deustschland lebt und in Deutschland auch Vermögen liegt.

Was funktioniert noch, um den Pflichtteil zu umgehen?

Nun, wenn man sein Vermögen nicht bereits mehr als 10 Jahre vor seinem Tod komplett übertragen will (und zwar auf jemand anderen als den Ehegatten, weil bei diesem die 10 Jahres-Abschmelzregel nicht greift), dann besteht als einzige realistische Option der Wegzug aus Deutschland bzw. aus Österreich. Und zwar in ein Land, das derartige Pflichtteilsansprüche oder Noterbrechte nicht kennt. Frankreich zum Beispiel bringt nichts, weil das dortige Noterbrecht noch schlimmere Folgen hat als das deutsche bzw. österreichische Pflichtteilsrecht.

Was hingegen bestens funktioniert, ist der Umzug nach Großbritannien, also die Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts (habitual residence). Das muss man sich natürlich (a) leisten können und (b) muss einem der Aspekt der Beseitigigung des Pflichtteils so wichtig sein, dass man bereit ist, hierfür seinen Daseinsmittelpunkt komplett zu verlagern.

Wenn jemand aber ohnehin eine Affinität zu den Briten hat, kann das die optimale Lösung sein. Nach englischem Recht gibt es nämlich keinen Pflichteilsanspruch deutscher oder österreichischer Prägung, sondern nur viel schwächer ausgestaltete „Family Provision Rules“. Die englischen Prinzipien der „Familiy Provision“ unterscheiden sich ganz erheblich vom deutschen Pflichtteilsrecht. Grob zusammengefasst ist die Stellung des länger lebenden Ehegatten in UK deutlich stärker als die der Kinder. Und es gibt – anders als in Deutschland – keine festen Pflichtteilsquoten; ob überhaupt bzw. wie viel jemand als Pflichtteil bekommt, steht weitgehend im Ermessen des Gerichts. Es handelt sich also um eine Art Sittenwidrigkeitskontrolle. Der Anspruchsteller muss vor Gericht beweisen, dass es “unreasonable” vom Testator war, ihn nicht im Testament zu bedenken. Ein harter Kampf, insbesondere wenn dem Kind eine Ausbildung finanziert und ggf. sogar eine gewisse Starthilfe gewährt wurde. Details, Hintergründe und aktuelle Entwicklungen zum englischen “Pflichtteilsrecht” finden sich im Bericht: „Law Commission 331 Intestacy Report 2011. Ein relativ aktueller Fall hierzu wurde am 27.7.2015 vom Englischen Court of Appeal entschieden ([2015] EWCA Civ 797; Case No: B3/2014/2886). Details dazu in diesem Post.

Neben dem Pflichtteilsaspekt hat das englische Erbrecht den weiteren Vorteil, dass man sein gesamtes Vermögen in unbegrenzter Höhe erbschaftsteuerfrei an den Ehegatten vererben kann (unlimited spouse exemption). Dadurch kann ein Ehepaar die Besteuerung des gemeinsamen Vermögens zeitlich erheblich nach hinten schieben. Der überlebende Ehegatte ist dann weder Pflichtteilsansprüchen ausgesetzt, noch muss er Erbschaftssteuer zahlen. Er oder sie ist dann vielmehr völlig frei, das dann verschmolzene Gesamtvermögen nach eigenen Vorstellungen einzusetzen, etwa zur Gründung einer Stiftung.

Auswandern nach Großbritannien

Unsere Kanzlei hat bereits einige wohlhabende Einzelpersonen oder Familien (neudeutsch High Net Worth Individuals genannt) bei einer solchen „Auswanderung“ aus Deutschland begleitet. Bis März 2019 (also bis Ablauf der Brexit-Frist) ist ein Umzug nach England für EU-Bürger rechtlich ohnehin noch problemlos möglich. Für wohlhabende Personen wird eine Wohnsitzverlagerung nach UK aber auch danach kein Problem sein. Ein solcher Schritt hat natürlich vielfältige Konsequenzen und erfordert sorgfältige Planung und Gestaltung der Auswirkungen auf Einkommensteuern, Erbschaftsteuern, Kapitalerträge etc. Je nach Fallkonstellation kann ein solcher Wegzug nach UK neben dem Pflichtteilsaspekt zahlreiche weitere Steuervorteile mit sich bringen. Für wen ein solcher Schritt in Frage kommt, erhält von uns bei Interesse weitere konkrete Checklisten und Leitfäden.

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Familien mit Auslandsvermögen sollten bei der Erstellung ihrer Testamente besonders sorgsam sein und die praktischen Folgen des Erbfalls aus Perspektive jedes Landes durchdenken, in dem die Familie Vermögen besitzt. Wir bieten unseren internationalen Mandanten hierfür seit Jahren Fragebögen und Checklisten. Wer sich bei der Testamentsgestaltung beraten lassen möchte, findet diese Mandantenfragebögen auf der Kanzleiwebsite in deutscher und englischer Fassung hier:

Weitere Informationen finden sich auch in unseren beiden Broschüren zum deutschen und internationalen Erbrecht:

Weitere Infos speziell zu deutsch-österreichischen sowie deutsch-britischen und deutsch-amerikanischen Erbfällen finden Sie hier:

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Die 2003 gegründete Anwaltskanzlei Graf & Partner ist spezialisiert auf die Beratung bei deutschen Erbfällen mit Bezug zu Österreich, der Schweiz sowie zu  anglo-amerikanischen Jurisdiktionen (England, Schottland, USA, Kanada, Australien und Südafrika). Wir haben lange Jahre praktischer Erfahrung mit der Abwicklung deutsch-österreichischer und deutsch-schweizer Nachlassangelegenheiten sowie deutsch-britischer, deutsch-amerikanischer und deutsch-kanadischer Erbfälle und unterstützen die Erben, Testamentsvollstrecker oder Nachlassverwalter gerne.

Wir prüfen und strukturieren den Erbfall und dessen steuerliche Auswirkungen, organisieren die in den jeweiligen Ländern nötigen Maßnahmen, nehmen auf Wunsch Kontakt zu den Erbrechtsexperten im jeweiligen Ausland auf (von USA und England über Südafrika bis Australien), und koordinieren die Nachlassabwicklung. Dies vermeidet Doppelarbeit und beschleunigt den Zugriff auf das ausländische Erbe.

Falls Sie bei einem konkreten Erbfall rechtliche Unterstützung benötigen, stehen Ihnen die deutschen Anwälte der Kanzlei Graf & Partner sowie deren Partneranwälte in Österreich, der Schweiz, England, Schottland und Irland gerne zur Verfügung. Ihre Ansprechpartner sind Rechtsanwältin Katrin Groll und Bernhard Schmeilzl, Rechtsanwalt & Master of Laws (Leicester, England), zentrale Rufnummer: 0941 463 7070.