Auch im Common Law ist der Rechtsgedanke Pflichtteilsanspruch nicht unbekannt
Die meisten deutschen und kontinental-europäischen Juristen meinen, dass das Konzept einer zwingenden Mindestbeteiligung am Nachlass des Ehegatten oder der Eltern eine Idee nur des deutschen bzw. französischen Rechts sei, das in anglo-amerikanischen Jurisdiktionen unbekannt sei und dort nur Kopfschütteln auslösen würde.
Weit gefehlt! Auch in etlich US-Bundesstaaten existiert ein Rechtsanspruch, der dem deutschen Pflichtteil bzw. dem französischen Zwangserbteil sehr ähnlich ist. Meist heißt dieser Anspruch „elective share“ oder „augmented share“ und gibt dem (enterbten) Ehegatten des US-amerikanischen Erblassers ein Wahlrecht: entweder das Testament akzeptieren oder den im jeweiligen Bundesstaat festgelegten Mindesterbteil (elective share) verlangen.
Für die Kinder sieht es in US-amerikanischen ERbrecht allerdings deutlich schlechter aus als in Deutschland. Mit Ausnahme einiger vom französischen Zivilrecht geprägten (südlichen) Bundesstaaten der USA existiert dieser Pflichtteilsanspruch meist nur für den Ehegatten.
In Großbritannien läuft es wiederum ganz anders: Das englische recht kennt zwar auch eine Art Pflichtteilsanspruch (family provision), dieser hängt aber sowohl von der Bedürftigkeit des Anspruchstellers als auch vom Verhalten des Erblassers zu Lebzeiten ab. Die Quote des britischen Pflichtteilsanspruchs ist also nicht fix, sondern wird vom englischen Bachlassrichter nach den Umständen des konkreten Falles festgelegt.
Die von vielen deutschen Erbrechtsanwälten empfohlene Vermeidung des deutschen Pflichtteilsanspruchs durch Flucht ins (anglo-amerikanische) Ausland funktioniert daher nicht immer, sondern kann sogar ins Gegenteil umschlagen.
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