Englische Zivilgerichte ordnen oft das „hot tubbing of experts“ an

Der Sachverständigenbeweis im englischen Zivilprozess folgt völlig anderen Prinzipien als in Deutschland. Detailliert geregelt wird das Thema Sachverständigenbeweis durch die englische Zivilprozessordnung in CPR Part 35 mit der Überschrift „Experts and Assessors“, der korrespondierenden Practice Direction 35 sowie dem für die anwaltliche und gutachterliche Praxis bedeutsamen Best Practice Leitfaden „Guidance for the Instruction of Experts in Civil Claims 2014. Für manche Rechtsgebiete (zum Beispiel Gutachten im Bereich Körperverletzung, Verkehrsunfälle u.a.) existieren zudem in den spezifischen Practice Directions noch weitere Regelungen. Zudem enthalten die jeweiligen Court Guides (Chancery Court Guide 2022, King’s Bench Guide 2022 usw.) jeweils ergänzende Vorschriften zum Expertenbeweis.

Was ist beim Expertenbeweis nach englischer ZPO so anders?

Nun, es beginnt schon bei der Auswahl und Beauftragung des Sachverständigen in einem englischen Zivilprozess. Im Unterschied zum Zivilprozess in Deutschland, bei dem prinzipiell das Gericht Sachverständige auswählt und ernennt (§ 404 Abs. 1 ZPO), beauftragen im englischen Zivilprozess die Prozessparteien selbst solche Experten. Allerdings ist ein Sachverständigenbeweis nur zulässig, wenn das Gericht diesen ausdrücklich erlaubt. Natürlich kann jede Partei für interne Zwecke und auf eigene Kosten Privatgutachten erstellen lassen. Will eine Partei aber einen offiziellen Sachverständigenbeweis führen, das Gutachten also in den Prozess einführen und den Sachverständigen zur Verhandlung laden, muss die Partei das Gericht vorher um Erlaubnis fragen und die für den Sachverständigen in etwa entstehenden Kosten mitteilen (CPR Rule 35.4).

Der Sachverständige hat ein schriftliches Gutachten zu erstellen. Adressat des Gutachtens ist stets das Gericht, nicht die Partei, auch wenn diese den Experten beauftragt hat und (zunächst) bezahlt. Jeder Sachverständige hat laut CPR Rule 35.3 die vorrangige Pflicht, dem Gericht bei der Wahrheitsfindung zu helfen. Diese Pflicht gegenüber dem Gericht ist ausdrücklich vorrangig vor etwaigen vertraglichen Pflichten gegenüber der beauftragenden Partei.

Einheitlicher gemeinsamer Sachverständiger (single joint expert)

Wollen beide Prozessparteien zum selben Thema jeweils einen Sachverständigenbeweis anbieten, so wird das Gericht meist anordnen, dass die Parteien sich auf einen gemeinsamen Experten einigen sollen und diesen dann gemeinsam beauftragen (single joint expert). Können sich die Parteien trotz Aufforderung durch das englische Gericht nicht auf einen gemeinsamen Gutachter einigen, ist der Richter / die Richterin erstens verärgert und wählt zweitens den Sachverständigen dann selbst aus.

Mehrere Sachverständige zum selben Beweisthema

Die Beauftragung eines jeweils eigenen Experten pro Prozesspartei zur selben Beweisfrage gestattet ein Zivilgericht in Englandf nur ausnahmsweise. Es muss sich erstens um einen multi track case vor dem englischen High Court (nur ganz selten vor dem County Court) handeln, der den Kosten- und Zeitaufwand für mehr als einen vom Gericht zu hörenden Sachverständigen rechtfertigt, und es muss eine komplexe Frage zugrunde liegen. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn die Parteien glaubhaft vortragen, dass zu diesem speziellen Beweisthema in der Wissenschaft verschiedene Auffassungen und Denkschulen vertreten werden.

In diesen Konstellationen, und nur in diesen, gestattet das englische Zivilgericht „concurring expert evidence“ (parallelen Sachverständigenbeweis). Selbst in solchen Fällen bedeutet dies aber nicht, dass die Experten schlicht zwei voneinander unabhängige Gutachten einreichen dürfen und das Gericht dann über zwei schriftlichen 200-Seiten-Brettern brüten muss.

Das englische Gericht kann (und wird in aller Regel) vielmehr per Beschluss (court order)anordnen, dass die jeweiligen Gutachter ihre – möglicherweise – unterschiedlichen Ansichten untereinander diskutieren müssen und im Zug dieser fachlichen Diskussion entweder doch zu einer übereinstimmenden Auffassung kommen oder – wo das nicht gelingt – schriftlich darlegen müssen, welche fachlichen Meinungsverschiedenheiten nicht ausgeräumt werden konnten und worin exakt die Unterschiede bestehen. Ziel der englischen Zivilprozessordnung ist es, dass die Sachverständigen dem englischen Gericht exakt vor Augen führen, wo die Auffassungen der Gutachter fachlich divergieren und welche Argumente für A und welche für B sprechen.

Showdown der Experten im Dampfbad

Verbleiben auch nach einer solchen Anordnung des Gerichts zur Diskussion noch fachliche Meinungsverschiedenheiten zwischen den Experten, kommt es in der mündlichen Verhandlung zum sog. „hot tubbing”. Das heißt, die Experten werden in der mündlichen Verhandlung (trial) nicht unabhängig voneinander / nacheinander vernomen, sondern sie müssen gleichzeitig in die witness box, wo sie dann – wie in einer heißen Badewanne oder einem Dampfbad – die Fragen des Gerichts beantworten, die Position des jeweils anderen Experten kommentieren und bewerten müssen. Je nachdem, welcher Experte das Gericht in dieser „Dampfbad-Session“ überzeugt, trägt den Sieg davon.


DER TEXT IST EIN STARK GEKÜRZTER AUSZUG AUS DEM PRAXISHANDBUCH „DER ZIVILPROZESS IN ENGLAND“, KAPITEL „BEWEISFÜHRUNG: DER SACHVERSTÄNDIGENBEWEIS“.

Rechtsanwalt Bernhard Schmeilzl, Master of Laws, ist Experte für Rechtsvergleichung, insbesondere für deutsch-englisches Prozessrecht sowie internationales Erbrecht. Er berät und vertritt deutsche Unternehmen und wohlhabende Privatpersonen in grenzüberschreitenden Rechtsfällen, insbesondere bei deutsch-britischen Wirtschaftsstreitigkeiten, Scheidungen, komplexen Erbfällen und internationalen Gerichtsverfahren. Er ist Autor des Anfang 2024 erscheinenden Praxishandbuchs Der Zivilprozess in England

Weitere Informationen zum englischen Zivilprozess in diesen Beiträgen:

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– In englischen Rechtsstreit verwickelt?

– Das angekratzte Ego des Gerichts-Sachverständigen

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Die 2003 gegründete Kanzlei Graf & Partner ist mit ihrer Abteilung für britisch-deutsche Prozessführung (GP Litigation) auf grenzüberschreitende Rechtsfälle spezialisiert, insbesondere auf deutsch-britische Wirtschaftsstreitigkeiten, Scheidungen und Erbfälle. Rechtsanwalt Schmeilzl ist Experte für Rechtsvergleichung, für deutsch-englisches sowie deutsch-amerikanisches Prozessrecht sowie Erbrecht und agiert auch in vielen Fällen als Nachlassabwickler (Executors & Administrators) für deutsch-britische oder deutsch-amerikanische Erbfälle.

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