Albtraum Zivilklage in England – Prozessparteien müssen alles auf den Tisch legen

Warum kosten Zivilprozesse in Großbritannien das Zehnfache als in Deutschland?

Wenn deutsche Firmen Verträge mit britischen Geschäftspartnern unterschreiben, akzeptieren sie oft englisches Recht und Gerichtsstand England. Die deutschen Manager denken: „So unterschiedlich wird es schon nicht sein. Und wir haben ja ohnehin nicht vor, einen Prozess zu führen.“

Nun ja, in der Praxis bedeutet eine solche Rechtswahl- und Gerichtsstandsklausel dann allerdings: Alle Zivilprozesse unterhalb eines Streitwerts von 10.000 Pfund kann man im Ernstfall sofort wieder vergessen, weil die eigenen Prozess- und Anwaltskosten in Wirtschaftsverfahren mindestens so hoch sein werden, wenn nicht erheblich teurer. Reisekosten, Übersetzungs- und Sachverständigenkosten noch gar nicht eingerechnet. Und nach englischem Recht erhält man seine Prozesskosten nie in voller Höhe erstattet, nicht einmal dann, wenn man zu 100% gewinnt.

Die Zivilprozessordnung von England & Wales steckt voller Überraschungen

Aber auch bei Streitigkeiten mit einem höheren Gegenstandswert haben deutsche Firmen in England wenig Freude, denn man begibt sich auf ein völlig unbekanntes Terrain. Deutsche Unternehmer und deren Anwälte fühlen sich in einem englischen Zivilprozess wie Fussballspieler, die sich plötzlich in einem Rugby-Match wiederfinden: Die anderen treten und schubsen, aber der Schiedsrichter pfeift nicht. Denn treten und schubsen ist erlaubt. Das Bild ist Ihnen zu abstrakt? Gut, dann hier ein konkretes Beispiel:

„Offenlegungspflicht“

Jede Partei eines Zivilverfahrens in England muss alle Dokumente offen legen, die mit dem Fall in Verbindung stehen. Alle! Ausdrücklich auch solche Unterlagen, die sich nachteilig auf die eigene Position auswirken. Nochmals: alle! Auch interne Memos, interne E-Mails zwischen Mitarbeitern des eigenen Unternehmens, von der Firma selbst in Auftrag gegebene Gutachten usw. Hat also ein Außendiensttechniker eine flapsige Mail oder WhatsApp an die Zentrale geschickt „Unsere Schrottmaschine geht wahrscheinlich wie immer nicht„, dann muss eine solche Nachricht der Gegenseite vorgelegt werden. Die Folgen für den Prozessausgang kann man sich denken.

Aber es geht noch weiter: Gelöschte Files müssen wieder reaktiviert werden. Liegen Unterlagen bei Dritten (zum Beispiel beim Steuerberater oder externen Consultants, müssen diese dort angefordert und der Gegenseite vorgelegt werden. Und zwar proaktiv, nicht erst auf Anfrage des Gegners. Praktisch bedeutet das: Ein Unternehmen, das eine Klage in England plant oder in England verklagt wird, muss sofort alle seine Mitarbeiter darüber informieren, dass diese ab sofort keine Unterlagen mehr vernichten oder verändern dürfen. Natürlich sollte man seine Belegschaft auch auffordern, wenigstens ab jetzt keine nachteiligen Unterlagen mehr zu produzieren.

Zur Vorbereitung des Prozesses muss das Unternehmen also – von sich aus – eine Aufstellung aller relevanten Unterlagen erstellen und mit den eigenen Anwälten in England diskutieren, ob man bei dieser Ausgangslage überhaupt eine Chance hat, den Prozess zu gewinnen.

Bevor man den Gerichtsprozess in England überhaupt starten kann, also Klage einreichen darf, muss nach den dortigen Civil Procedure Rules ohnehin ein ausführliches Anspruchsschreiben (Letter of Claim) an den (potentiellen) Prozessgegner geschickt werden, Stichwort Pre-Action Protocol (Details dazu hier). Die Idee hinter dieser Pflicht zur ausführlichen vorprozessualen Korrespondenz ist, dass die britischen Gerichte erst als Ultima Ratio behelligt werden sollen. Vorher müssen die Parteien alle relevanten Informationen austauschen und sich ernsthaft bemühen, eine außergerichtliche Lösung zu finden.

Mandanten-Infobrief zu den Offenlegungspflichten

Welche Auswirkungen diese Pflicht zur Dokumentenoffenlegung hat, sieht man am besten an den in England üblichen Informationsschreiben, die englische Prozessanwälte ihren Mandanten schicken, sobald das Thema Zivilprozess (Civil Litigation) im Raum steht. Hier ein Beispiel eines solchen 6-seitigen „Guide to Civil Litigation – Disclosure Obligations

DISCLOSURE INFORMATION UK – HINWEIS DOKUMENTENOFFENLEGUNG

Fazit: Spielregeln kennen

Wer Geschäftsbeziehungen mit Briten pflegt, sollte einmal durchdenken, ob und wie er im Ernstfall eine Forderung erfolgreich geltend machen will. Ein Zivilprozess vor einem englischen Gericht ist ganz offenkundig nicht die beste Lösung. Sinnvoller ist ein geschickt gestalteter Vertrag, so dass man gar nicht erst in Vorleistung geht. Alternativ die Vereinbarung von Arbitration (Schiedsgericht) oder – wenn möglich – Adjudication, ein Verfahren ähnlich dem deutschen Urkundenprozess, bei der die Disclosure-Pflichten nicht gelten. Allerdings folgt dem Adjudication-Verfahren oft ein reguläres Gerichtsverfahren zur Nachprüfung des Adjudicator-Schiedsspruchs.

Weitere Informationen zu Rechtsstreitigkeiten mit Briten oder vor britischen Gerichten, zur englischen Zivilprozessordnung, Prozessführung und Zwangsvollstreckung in UK in diesen Posts:

– Wie sieht eine Zivilklage in England aus?

– In englischen Rechtsstreit verwickelt?

– Das angekratzte Ego des Gerichts-Sachverständigen

– Schmerzensgeldreform in UK

– UK Zivilprozessordnung und Expertengutachten in England

– Anwaltliche Versicherung in UK” (solicitor’s undertaking)

– Mandant lügt im Zivilprozess, Anwalt haftet: Harte ZPO-Regeln vor englischen Gerichten

– Mal schnell Klage einreichen? Nicht in England

– Wie im Hollywood-Spielfilm: “You have been served!” (Zustellung in UK und USA)

– Sie wollen einen EU-Titel in Großbritannien vollstrecken? Wie gut sind Ihre Nerven?

– Solicitors, Barristers, Advocates: Wer darf in England vor Gericht eigentlich was?

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Die 2003 gegründete Kanzlei Graf & Partner ist mit ihrer Abteilung für britisch-deutsche Prozessführung (GP Chambers) auf grenzüberschreitende Rechtsfälle spezialisiert, insbesondere auf deutsch-britische Wirtschaftsstreitigkeiten, Scheidungen und Erbfälle. Rechtsanwalt Schmeilzl ist Experte für deutsch-englisches sowie deutsch-amerikanisches Prozessrecht sowie Erbrecht und agiert auch in vielen Fällen als Nachlassabwickler (Executors & Administrators) für deutsch-britische oder deutsch-amerikanische Erbfälle.

Falls Sie bei einer britisch-deutschen Rechtsangelegenheit Unterstützung benötigen, stehen Ihnen die deutschen Anwälte und Solicitors der Kanzlei Graf & Partner sowie die englischen Solicitors der Kanzlei Buckles LLP gerne zur Verfügung. Ihr Ansprechpartner in Deutschland ist Bernhard Schmeilzl, Rechtsanwalt & Master of Laws (Leicester, England).