Die bizarre Welt des englischen Zivilprozesses

Wer in England und Wales (Schottland hat ein eigenes Justizsystem) Rechtsrat oder anwaltlichen Beistand in einem Zivilstreit benötigt, steht einer verwirrenden Anzahl verschiedener Anwaltsberufe gegenüber. Neben der traditionellen Unterscheidung zwischen solicitor (abgeleitet vom altfranzösischen “soliciteur”: jemand, der etwas beantragt, auf etwas drängt, etwas erbittet) und barrister (abgeleitet von „the bar“, der hölzernen Barriere, die traditionell den Bereich des Richters vom Bereich der Anwälte, Parteien und Zuschauer abtrennt; barrister sind somit Anwälte, die berechtigt sind, an diese Barriere zu treten und einen Fall vorzutragen), gibt es seit 1990 auch solicitor advocates, die ihre Mandanten auch vor höheren Gerichten allein vertreten dürfen.

Warum gibt es in England verschiedene Arten von Rechtsanwälten?

Solicitors sind die ersten Ansprechpartner, die direkten juristischen Berater und Vertreter des Mandanten. Dies gilt auch und besonders in Gerichtsverfahren. Die oft gehörte Aussage „solicitor sind außerprozessuale Vertragsanwälte, barrister sind Prozessanwälte“ ist schlicht falsch. Gerade in komplexen Zivilprozessen sind solicitor die für den Mandanten wichtigsten Anwälte. Sie ermitteln den relevanten Sachverhalt, prüfen die Rechtslage, entwerfen Schriftsätze und andere Dokumente und vertreten ihre Mandanten, selbst wenn für den konkreten Vortrag des Falles vor Gericht ein barrister eingeschaltet wird.

Die Perücke und Robe tragenden barrister sind zunächst Spezialisten für den Gerichtssaal (trial specialists), also Experten für Prozessrecht, die juristische Argumentationsführung in Schriftsätzen (drafting) sowie die Präsentation des Falles in der mündlichen Verhandlung, inklusive Zeugenbefragungen und Plädoyers (advocacy).

Zudem sind barrister (auch als counsel bezeichnet, nicht allerdings als counselor wie in USA) oft Spezialisten für bestimmte materielle Rechtsgebiete, also Kenner der einschlägigen Rechtsprechung zu einem Thema, und werden als juristische Berater und Rechtsgutachter beigezogen. Wird es rechtlich komplex, hört ein Mandant vom solicitor meist die Empfehlung: „It may be sensible to obtain counsel’s opinion regarding …“ Frei übersetzt heißt das: „Ich kenne mich nicht mehr aus und schlage dringend vor, dass wir die Stellungnahme eines barrister zu dieser Rechtsfrage einholen.“ Für die Suche nach ausgewiesenen Expertinnen und Experten auf einem bestimmten Fachgebiet (practice area) sind die Specialist Bar Associations (SBA) eine gute Anlaufstelle.[2] Alternativ die etablierten Ranking-Publikationen wie „The Legal 500“ oder „Chambers“ und natürlich die Webauftritte der barrister selbst. Besonders erfahrene und verdiente barrister werden zu King’s Counsel (KC) ernannt, umgangssprachlich auch als „silks“ bezeichnet wegen der nur von ihnen getragenen Seidenrobe (silk gown). Einfache barrister tragen dagegen Roben aus Wolle.

In den meisten juristischen Publikationen und auch noch auf etlichen Websites und Visitenkarten von barristers findet man allerdings noch die bis zum Tod von Queen Elizabeth II im September 2022 gut 70 Jahre lang gültige Bezeichnung Queen’s Counsel (QC). King James I ernannte im Jahr 1603 Francis Bacon als “one of our Counsel learned in the law”, der Ursprung dieser Auszeichnung für besonders renommierte Juristen.  Ursprünglich waren diese King’s Counsel tatsächlich Berater am königlichen Hof, mit der Zeit wandelte sich die Bezeichnung zu einem Ehrentitel für beruflich herausragende oder einflussreiche Anwälte, in der Regel barrister, ausnahmsweise auch solicitor advocates. Seit 2005 entscheidet ein unabhängiges Selection Panel darüber, welche barrister die begehrte Auszeichnung erhalten.


DER TEXT IST EIN GEKÜRZTER AUSZUG AUS DEM PRAXISHANDBUCH „DER ZIVILPROZESS IN ENGLAND“, KAPITEL „DIE ANWALTSCHAFT“.

Rechtsanwalt Bernhard Schmeilzl, Master of Laws, ist Experte für deutsch-englisches Prozessrecht sowie internationales Erbrecht. Er berät und vertritt deutsche Unternehmen und wohlhabende Privatpersonen in grenzüberschreitenden Rechtsfällen, insbesondere bei deutsch-britischen Wirtschaftsstreitigkeiten, Scheidungen, komplexen Erbfällen und internationalen Gerichtsverfahren. Er ist Autor des im Winter 2023/2024 erscheinenden Praxishandbuchs Der Zivilprozess in England

Weitere Informationen zum englischen Zivilprozess in diesen Beiträgen:

–  Was verdienen Richter in England?

Wie sieht eine Zivilklage in England aus?

– In englischen Rechtsstreit verwickelt?

– Das angekratzte Ego des Gerichts-Sachverständigen

– Schmerzensgeldreform in UK

– UK Zivilprozessordnung und Expertengutachten in England

– Anwaltliche Versicherung in UK” (solicitor’s undertaking)

– Mandant lügt im Zivilprozess, Anwalt haftet: Harte ZPO-Regeln vor englischen Gerichten

– Mal schnell Klage einreichen? Nicht in England

– Wie im Hollywood-Spielfilm: “You have been served!” (Zustellung in UK und USA)

– Sie wollen einen EU-Titel in Großbritannien vollstrecken? Wie gut sind Ihre Nerven?

– Solicitors, Barristers, Advocates: Wer darf in England vor Gericht eigentlich was?

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Die 2003 gegründete Kanzlei Graf & Partner ist mit ihrer Abteilung für britisch-deutsche Prozessführung (GP Chambers) auf grenzüberschreitende Rechtsfälle spezialisiert, insbesondere auf deutsch-britische Wirtschaftsstreitigkeiten, Scheidungen und Erbfälle. Rechtsanwalt Schmeilzl ist Experte für deutsch-englisches sowie deutsch-amerikanisches Prozessrecht sowie Erbrecht und agiert auch in vielen Fällen als Nachlassabwickler (Executors & Administrators) für deutsch-britische oder deutsch-amerikanische Erbfälle.

Falls Sie bei einer britisch-deutschen Rechtsangelegenheit Unterstützung benötigen, stehen Ihnen die deutschen Anwälte und Solicitors der Kanzlei Graf & Partner sowie die englischen Solicitors unserer Partnerkanzleien gerne zur Verfügung. Ihr Ansprechpartner in Deutschland ist Bernhard Schmeilzl, Rechtsanwalt & Master of Laws (Leicester, England).